Bewusst ambivalent

Die Nerven

  • Michael Saager
  • Lesedauer: 2 Min.

Fun« (2014) nannte »Spiegel-Online« »eine der wichtigsten und besten deutschsprachigen Platten dieses Jahrzehnts«. Was macht man damit, wenn man gerade mal Anfang 20 ist, also noch nicht daran gedacht hat, sich auf der Höhe möglichen Ruhmes zur Ruhe zu setzen? Man freut sich über die gut besuchten Konzerte und Festivals, zu denen man vorher nicht eingeladen wurde, wird nicht Teil einer nichtexistenten Jugendbewegung, ärgert sich über die doofe Bezeichnung »Kritikerlieblinge«, zieht nicht nach Berlin, spielt das dritte Album ein und nennt es schlicht »Out«.

Wie das geht? Die drei Stuttgarter Julian Knoth (Gesang, Bass), Max Rieger (Gesang, Gitarre) und Schlagzeuger Kevin Kuhn sagen: Ruhig bleiben und sich auf das besinnen, »für das man den Scheiß macht«, nämlich »einfach aus Spaß«. Jochen Distelmeyer hätte das komplizierter ausgedrückt. Aber an Blumfeld erinnert das sehr düstere, dichte, heftige »Fun« ja sowieso nicht, dafür umso stärker an Joy Division und Sonic Youth, an Kolossale Jugend, Fehlfarben und Mutter.

Was ist mit »Out«? Eingängiger, zugänglicher, transparenter, dynamischer als »Fun« sollte es klingen, was es durchaus tut. Viel Disco-Punk von LCD Soundsystem oder !!! hätten sie gehört. Zwingend bemerken muss man das nicht. Und nein, der eher behäbige Reggae-Post-Punker »Barfuß durch die Scherben« ist kein echter Dance-Floor-Knaller. Die Band sieht das anders. Macht ja nix. Zumal ein Song wie »Den Tag vergessen« so einen herrlich lässigen, an die letzten Sonic-Youth-Platten erinnernden Gitarrenlauf hat. Überhaupt erinnert die Dramaturgie vieler Songs abermals an die Vorbilder aus New York, mitunter auch an wichtige Bands aus der Chicagoer Post-Punk- bzw. Post-Rock-Szene wie Bitch Magnet oder Slint. Immer wieder ist da dieser Wechsel aus Lockerlassen und Zupacken, laut und leise. Wie aus einer Lauerhaltung heraus bewegen sich die Stücke langsam auf den Höhepunkt zu - die Explosion, die Gitarrenwand, den herausgeschrienen Refrain.

Man täte dem Trio zwangsintellektualisierende Gewalt an, würde man »Out« Diskurs-Rock nennen. Um was es geht? Tja. Um Gentrifizierung, Klimapolitik, Einsamkeit, Digitalisierung, zwischenmenschliche Kälte? Geht’s überhaupt um was, abgesehen von einer gefühlsstarken atmosphärischen Grundierung der Musik durch möglichst seltsam anmutende, paranoide Lyrics? Musik gegen Tagespolitik, no way! Die Nerven sind nicht Die Goldenen Zitronen. Sie singen lieber: »Alles ist verdreckt / Vergiss die ganzen Pläne«. »Sieh nach hinten, wenn du gehst«. »Keine Lösung, kein Problem: Ein Remis ohne Zweifel hab’ ich nicht kommen sehen«. »Die Texte sind schon bewusst ambivalent gehalten«, sagt Julian Knoth. Wer hätte das gedacht!

Die Nerven: »Out« (Glitterhouse Records / Indigo)

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