Es gibt sie noch: Bananen!
Landolf Scherzers Buch über Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow - »Der Rote«
Dezember bringt Schlamm, zugleich verfrostet die Welt - es kommen knackig kalte Verhältnisse. Dunkel wird’s, aber Schwarz ist vorbei - politisch jedenfalls: In Thüringen regiert ab Dezember 2014 nicht mehr die CDU, sondern »Der Rote«. Bodo Ramelow, erster Ministerpräsident der Linkspartei. Rot-rot-grün. Nun spucken die politischen Gegner, als habe er den Morast seiner niedersächsischen Moorlandschaft importiert, und der Freistaat versinke demnächst darin. Wird die Demokratie erfrieren? Dezemberangst.
Die hat auch Landolf Scherzer, und genügend Schlamm hat auch er. Der Schlammassel: ein Leck, irgendwo im PVC-Rohr seiner Wasserleitung im Dietzhäuser Seßletal. Scherzer wird fortan zwei Dinge betreiben: reportierend die ersten hundert Tage der neuen Landesleitung begleiten - und entlang seiner Wasserleitung graben und baggern. Neue Regierung? Kurde Ercan vom nahe gelegenen Dönerladen: Ihn interessieren »keine linken Ideologien und auch keine Revolutionen, nur, ob Regierung gut für kleine Leute.«
Das Schönste am Regieren: die Chance »kurzer Wege«, wie eine linke Abgeordnete sagt, »jetzt müssen wir nicht mehr betteln«. Sie hat Ramelow einen seltenen roten Stein aus Norwegen geschenkt, »das weiche Wasser des Flusses hat ihn zwar glattgeschliffen, trotzdem erkennt man noch Schrammen, Einlagerungen.« Urangst der Linken vor der Demokratie: durch Beteiligung weich zu werden, sich an einer Bürgerlichkeit zu infizieren, die doch unsere Bestandgarantie bleibt. »Bürgerlich« (die Presse, die Parteien) - eine dümmliche linke Abgrenzungsphrase. Als sei man selber antibürgerlich - und errichtet doch sein kleines Denkhäuserl auf den Bizeps der hiesigen Gesellschaft.
Eigentlich stammte die energische Ermunterung zu Scherzers Buch von Frank Quilitzsch, einem Thüringer Journalisten. Der schreibt an einem Buch über seinen Vater, einen Genossen, den nach der Wende die stalinistischen Enthüllungen so erschütterten, dass er sich fortan als »unnützen Menschen« und sein Leben in der DDR rückblickend als »sinnlos« bezeichnete. Ein Charakter. Verweis darauf, dass Geschichtsforschung zuallererst Schmerzermittlung ist. Selbstgericht. Oder Opferhilfe. Bei Ramelow »Chefsache«. Gegen jede Bagatellisierung von einstiger juristischer Willkür, Todesschüssen, Wahlbetrug, Verfassungsbruch.
»Behördenleiter« nennt sich Ramelow. Ein Zügelungsspezialist. Inspirierter Realist. Also: das Regelbare verhandeln, ohne jene linke aufgeklärte Selbstherrlichkeit, die an erfolgreiche Bewusstseinsoperationen glaubt. Es geht um Thermen, Windräder, fehlende junge Arbeitskräfte, Investoren. »Reformen von unten wachsen und erst dann von oben beschließen lassen«, zitiert das Buch die Staatskanzlei. Bei Ramelow liegt die Bibel auf dem Schreibtisch, bei der Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei das Kommunistische Manifest. Arbeitsteilung.
Von den stockenden, zähen Schachtarbeiten vor seinem Wildnishäuschen bricht Scherzer regelmäßig auf. Zu Demonstrationen, Ämtern, Bürgertreffs, Suppenküchen. Thüringen ist die Welt. Also Provinz - wie alles und jeder. Scherzer fragt, hört zu, fragt weiter. Erzählt ihm zum Beispiel eine Frau von ihrer einstigen Ausreise in den Westen, so besucht er deren Eltern, die damals im Robotron-Kombinat Zella-Mehlis/Meiningen arbeiteten, in verantwortlicher Position. Niemand forderte sie auf, den Kontakt zur »klassenfeindlichen« Tochter abzubrechen. Der Schwester, die an der NVA-Bauhochschule studieren wollte, wurde vom Wehrkreiskommando (!) geholfen, an die Hochschule für Bauwesen in Weimar zu wechseln. Im Gespräch fällt der lapidare Satz »So war das damals.« Wie war es? So, wie es jeder als Erinnerung aufruft. So - oder für andere ganz anders. Fülle statt Tendenz. Solchen Geschichten ist Scherzer mit inständigem Nachdruck auf der Spur.
Berührend ein Besuch mit Ramelow bei HDF, Hans-Dieter Fritschler, einst 1. SED-Kreissekretär in Bad Salzungen. »Der Erste« hieß Scherzers Buch über ihn (1988), mutig offen, hartnäckig ehrlich - und deshalb zensurbedroht. HDF sitzt im Rollstuhl, er hat nach einer Operation am Kopf neun Monate im künstlichen Koma gelegen. Herzlichkeit bei Ingwertee und Leitungswasser. Einmal sagt der alte Kämpe, es sei für Ramelow »bestimmt leichter, die DDR einen Unrechtsstaat zu nennen, als den Kommunen Geld zu beschaffen«. Fürs Foto legt Scherzer eine Hand auf die Schulter des »Ersten«, die andere auf die Schulter des »Roten« und beschreibt sein »gutes Gefühl«. Nähe ist diesem Reporter wichtiger als der kalte Blick. Auch auf den »Roten«.
Geboren wird Bodo Ramelow 1956 im niedersächsischen Osterholz-Scharmbeck, nahe am Teufelsmoor. Gewerkschaftsfunktionär, Organisator des Fusionsprozesses von PDS und WASG. Praktische Veranlagung hat ihn spröde gemacht gegenüber weltanschaulichen Treueschwüren. »Ich lasse mir mein Heimatgefühl auch nicht von deutschlandkritischen Linken zerstören ... ich bin gegen jegliches Lagerdenken«. Er hat Sinn für erreichbare Entfernungen. Vor allem hat diesen leidenschaftlichen Wanderer (etwa auf der Seidenstraße nach Timbuktu) ein Satz von Nietzsche geprägt: »Wehe dem, der Wüsten in sich trägt!« Motto eines linken Politikers, der die Sahara liebt, aber nicht gern etwas in den Sand setzt.
Das Buch ist ein Report entlang der gesamten Personage eines Spitzenpolitikers. Scherzer ist nicht vor Ort, sondern am Ort, Teilnehmer am Drucksachenmarathon durch Ressorts, bei Lagebesprechungen, Lokalterminen, Landtagssitzungen. Er bleibt im adelnden Sinne des Wortes ein - Wegelagerer. Sein spürsinnlicher Aufenthalt liegt in der Bewegung. Auf Fluren, in Arbeitszimmern, in Kantinen, beim Dorfarzt und an selbstgewählten Stammtischen; er beobachtet, gräbt sich mit trainierter Neugier in Abläufe, Personalien, Strukturen. Schaut nach, ob in Büros gelacht wird und Blumen stehen. Erzählt die politische Biografie Thüringens, in Porträts von Entscheidungsträgern, in Beschreibungen von Verwaltungsdramen und Hierarchiekomödien. Politik im Landtag: Neugier, Impulse, aber auch der alte, ewige Exorzismus der Schmähreden. Rot bleibt einigen Leuten eine Schreckfarbe. Sein unbestreitbares eigenes Verdienst verkündet Ramelow auf einem politischen Aschermittwoch: »Heute ist der 75. Tag meiner Regentschaft. Aber es gibt immer noch Bananen in Thüringen.«
Scherzer ist nicht der klügelnde Essayist, er bleibt robuster Protokollant, fiebrig nach Dialog und Direktem; er flaniert nicht auf leisen Sohlen entlang, er klopft an und wird, trotz der Straßenschuhe, eingelassen. Vertrauensstrahlung. »Du wirst nie ein feiner Mann«, zitiert er im Buch seine Mutter und gibt ihr Recht - dessen wohl durchaus zufrieden. Er hat als Recherchierender ein Augenmerk auf das Vordringliche, dafür riskiert er eine reporterische Auf-Dringlichkeit, die freilich nie eindringend, also verletzend wirkt.
Wenn Marxisten zu Recht darauf verweisen, Marx’ Aufdeckung der kapitalistischen Betriebsgeheimnisse sei akuter denn je, so ist das richtig - und kennzeichnet zugleich die große Not: Denn außer der ökonomischen Analyse hat der Marxismus kaum Attraktives mehr zu bieten, sein Theorem verfängt nur noch im Hardcore-Sektor der trotzigen Beharrung. Der italienische Philosoph Georgio Agamben: »Das Modell des Kampfes, das die politische Einbildungskraft der Moderne ruiniert hat, sollte durch das Modell des Auswegs ersetzt werden.« Ramelow ist in diesem Sinne ein Segen für die Linken, denn Regieren ist - purer Ausweg: Du musst Menschen nehmen, wie sie sind. Regieren ist freiwillige Aufgabe jener linken Gewohnheit, Definitionen zu ändern, aber zu behaupten, man habe die Dinge geändert. Sich als Partner auszugeben, aber Richter zu bleiben. Ist Verzicht auf den schrillen Beschuldigungseifer, wie ihn jede Opposition praktiziert. Einmal steht Ramelow im Landtag demonstrativ auf und gibt einer AfD-Abgeordneten die Hand. Sie hatte soeben ihren persönlichen Mitarbeiter entlassen, der auf einer Sügida-Veranstaltung erklärt hatte, durch Flüchtlings- und Islamgewogenheit seien die Mitglieder der Landesregierung als »Feinde unseres Volks« entlarvt.
Scherzer, der große Reporter des Ostens, leidet in einem Punkt am »Roten« - er hätte sich Ramelow wohl unvorsichtiger, offener gewünscht. Aber jedes Amt verpanzert. Zum Glück hat der Autor einen Paparazzo bei sich, auf den hier zum Schluss unbedingt hingewiesen sei. Ein Mann namens Frieder, der auffällig durchs Buch geistert. Geistert? Er ist doch da. Der Arbeiter. Helfer in Scherzers Baggergrube. Sein Ariel, sein Caliban. Luftgeist und Schaufelknecht. Steht als unverzichtbarer Hintergrundwisser im Grundwasser. Was der alles weiß, wie gut der den Ramelow kennt, wo der überall hin- und durchblickt. Wer dieses Buch liest, wird von dem gefangen, was eine literarische Reportage zum Erlebnis formt. Der Reiz des Wirklichen - Scherzer ist kein Dichter. Obwohl ihn Ramelow herzlich ironisch so nennt. Und wahrscheinlich gar nicht ahnt, wie recht er damit hat. Jedenfalls, was diesen Frieder betrifft. Manchmal steckt verblüffendste Wahrheit just in dem, was man an ihr erfindet.
Landolf Scherzer: Der Rote. Macht und Ohnmacht des Regierens. Aufbau Verlag. 364 S., geb., 19,95 €.
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