Die Kirsche auf der Torte

Die Europaabgeordnete Ska Keller befürchtet weitere Beschlüsse zur Abschottung der EU

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Ska Keller ist Abgeordnete des Europäischen Parlaments und dort stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Handels- und Migrationspolitik der EU. Die 33-Jährige war Berichterstatterin für den Verteilschlüssel für Flüchtlinge. Erst am vergangenen Wochenende besuchte sie Griechenland. Über Ihre Erwartungen an die Treffen der Staats- und Regierungschefs in Malta sprach mit ihr Katja Herzberg.

Die EU-Staats- und Regierungschefs treffen sich an diesem Mittwoch und Donnerstag in Valletta mit afrikanischen Staaten, um über »Probleme und Chancen« der Migration zu sprechen, wie es heißt. Welche Ergebnisse erwarten Sie?

In den letzten Wochen gab es eine ganze Reihe von Treffen der Mitgliedsstaaten. Am Ende einigte man sich immer nur auf mehr Abschottung. Der Valletta-Gipfel ist nun die Kirsche auf der Torte. Hier geht es darum, dass sogar mit Ländern wie Eritrea zusammengearbeitet wird, obwohl das dort herrschende Regime Ursache für die Flucht der Menschen aus dem Land ist. Herkunfts- und Transitländer sollen dafür sorgen, die Flüchtlinge aufzuhalten. Das ist weder mit Menschenrechten vereinbar noch mit der wirklichen Bekämpfung von Fluchtursachen. In Eritrea fliehen die Menschen vor der Diktatur, in anderen Ländern ebenso vor Konflikten oder wegen einer wirtschaftlich extrem schlechten Situation. Da könnte die EU viel machen, denken wir nur an die Agrar- oder Handelspolitik, die gerade arme Länder noch ärmer macht. Aber daran wird gar nicht gerüttelt.

Beim Valletta-Gipfel soll doch aber eine Verstärkung der Entwicklungszusammenarbeit beschlossen werden. Zur Debatte steht die Einrichtung eines African Trust Fund in Höhe von 1,8 Milliarden Euro.

Das ist richtig. Damit soll aber nur Entwicklungsgeld dafür eingesetzt werden, die Rückübernahme von Flüchtlingen zu erkaufen. Das ist das Gegenteil von Entwicklungszusammenarbeit.

Beim Gipfel wird auch der Militäreinsatz im Mittelmeer eine Rolle spielen. Nach Malta und Lampedusa kommen derzeit weit weniger Flüchtlinge als noch im Jahr 2014. Hat der Kampf gegen Schlepper vor der Küste Tunesiens und Libyens erste Erfolge gezeitigt?

Die Fluchtrouten haben sich geändert, die Menschen kommen nun über den Balkan nach Westeuropa. Aber das hat nichts mit dem Militäreinsatz zu tun. Der ist eine Lachnummer. Jetzt in Phase 2 geht es darum, Boote aufzuspüren und sie zu zerstören, nachdem die Flüchtlinge von Bord sind. Aber das passiert bis jetzt auch schon oft genug aus seefahrttechnischen Gründen, damit man nicht denkt, da kommt schon das nächste Boot. Das einzige, was der Einsatz bringt, ist, Ressourcen von der Seenotrettung abzuziehen. Das ist eine Katastrophe. Flüchtlinge hält der Einsatz nicht ab.

Nun haben Sie sich am vergangenen Wochenende von der Lage in einem Teil der aktuell am stärksten frequentierten Fluchtroute ein Bild gemacht und waren in Griechenland und auf Lesbos. Nach allem, was Sie dort gesehen und gehört haben: Glauben Sie, dass die Europäische Union mit der sogenannten Flüchtlingskrise fertig wird?

Die Menschen werden weiter kommen, solange es keinen Frieden in Syrien und der Region gibt. Die Herausforderungen sind für jedes Land immens. Sie sind dort am größten, wo die Menschen ankommen, also in den Balkanstaaten und auf den griechischen Inseln. Aber es gibt genügend Länder, die sich noch nicht beteiligen. Es ist nicht einfach, die vielen Menschen aufzunehmen, aber prinzipiell machbar. Auch wenn man vergleicht, was andere Länder leisten. Die Türkei hat 70 Millionen Einwohner und zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Die EU hat 500 Millionen Bürger. Da ist eine Zahl von drei Millionen, wie sie nun im Raum steht, ordentlich, aber zu schaffen.

Welche Maßnahmen sollte die EU jetzt also ergreifen?

Es braucht ganz dringend eine Verteilung auf die ganze EU mit einem umfassenden System. Die beschlossenen 160 000 Relocation-Plätze reichen bei Weitem nicht aus. Und die Verteilung läuft nur sehr schleppend an. Es sind gerade einmal knapp 150 Flüchtlinge in andere EU-Länder gebracht worden.

Ein solches System würde auch eine grundsätzliche Abkehr von der Dublin-Verordnung bedeuten, die vorsieht, dass Flüchtlinge einen Asylantrag nur in dem Land stellen dürfen, in das sie zuerst in die EU eingereist sind. Für eine Reform von Dublin hatte sich zuletzt auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgesprochen. Wie ernst nehmen Sie eine solche Äußerung?

Wir Grüne und auch das Europäische Parlament haben schon viele Jahre darauf hingewiesen, dass das Dublin-System reformiert werden muss. In der Bundesregierung ist das erst in diesem Jahr richtig angekommen. Ich sage: besser spät als gar nicht. Wir müssen jetzt aber auch zu einer fairen Verteilung von Flüchtlingen kommen, das heißt auf alle 28 Mitgliedsstaaten. Aus unserer Sicht ist besonders wichtig, dass die Verteilung auch fair und gerecht für die Flüchtlinge selbst geregelt wird. Sie sollten dahin gelassen werden, wo sie familiäre und soziale Bindungen sowie Sprachkenntnisse haben. Das würde auch die Integration erleichtern.

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