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Das Märchen von der Gerechtigkeit
Bryan Stevenson klagt an: Polizeiterror und Justizwillkür in den USA
Der Autor dieses faszinierenden und zugleich erschütternden Buches ist Professor an der New York University School of Law und Mitbegründer und Geschäftsführer der Equal Justice Initiative (EJI), einer Organisation, die sich für Menschen einsetzt, die unter die Räder der amerikanischen Justiz gekommen sind. Für seinen Kampf um Recht und Gerechtigkeit erhielt Bryan Stevenson im Jahr 2000 den schwedischen Olof-Palme-Preis. Desmond Tutu bezeichnete ihn sogar schon als »Amerikas jungen Nelson Mandela«.
Bryan Stevenson: Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA.
A. d. Amerik. v. Jürgen Neubauer. Piper. 413 S., geb., 20 €.
Stevenson, der zahlreiche Verfahren gewonnen und viele Unschuldige vor der Vollstreckung der Todesstrafe gerettet hat, berichtet vor allen Dingen aus seiner anwaltlichen Praxis. Willkürliche Verhaftungen, gefälschte Beweise, rassistische Vorurteile durch Polizei und Gerichte und ein kaputtes Justizsystem kennzeichnen den Alltag im Rechtsstaat USA. Der Autor klagt an und beweist anhand zahlreicher Fälle aus den Todeszellen und Gerichtssälen, dass das US-amerikanische Strafsystem völlig versagt hat.
Das US-Justizunrecht hat viele Ursachen. Die Gerichte als »Hüter des Systems« sind einerseits außerordentlich unwillig, Verfahren noch einmal aufzurollen. Selbst wenn die Unschuldsbeweise erdrückend sind, folgen Ablehnungen, deren Begründungen in der Regel platt, gehaltlos und gelangweilt vorgetragen werden, wie es der Anwalt oft erlebt hat. Menschen und Gerechtigkeit interessieren dann überhaupt nicht mehr.
Andererseits gibt es tiefe historische Ursachen. »Der Rassenterror der Lynchmorde war in vieler Hinsicht der Vorläufer der modernen Todesstrafe. Die Vereinigten Staaten entschieden sich auch deshalb für die ›legalen‹ Hinrichtungen, um die gewalttätige Energie der Lynchjustiz zu kanalisieren und weißen Südstaatlern zu signalisieren, dass die Schwarzen am Ende mit ihrem Tod büßen würden.« Das größte Unrecht rühre aus dem Mythos um Rassenunterschiede, der in den USA noch heute gepflegt werde und u. a. auch in der Diskriminierung durch Polizei und Gerichte fortwirke.
Nach Auffassung des Autors ist die Todesstrafe in den USA eine Strafe für die Armen. Bryan Stevenson wendet sich gegen die These, dass die Anschläge des 11. September 2001 die ersten Terrorakte auf amerikanischem Boden waren. Ein älterer Afroamerikaner aus den Südstaaten sagte einmal zu ihm: »Wie können die so etwas behaupten? Wir sind mit dem permanenten Terror groß geworden. Die Polizei, der Klan, alle Weißen haben uns terrorisiert. Wir hatten dauernd Angst vor Bomben und Lynchmorden und allen möglichen rassistischen Verbrechen.«
Mit Bestürzung lesen wir in dem Buch, dass 2500 Minderjährige, vor allem farbige Kinder, schuldig oder auch unschuldig zu lebenslanger Haft verurteilt sind - ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung. Der Autor fragt: Ist es nicht besonders grausam, einem 13-Jährigen zu sagen, dass er nur dazu tauge, im Gefängnis zu sterben? Dennoch sind einige Richter nicht gewillt, die Urteile zu mildern. Im Fall von Antonio Nuñez hob der Richter zwar die lebenslange Gefängnisstrafe auf, um sie dann aber durch eine Haftdauer von 175 Jahren (!) zu ersetzen. Stevenson musste Berufung einlegen, um ein menschlicheres Strafmaß zu erreichen.
Der Autor weist auf die sozialen Ursachen von Kriminalität, z. B. wenn jugendliche Straftäter entsetzliche und sinnlose Verbrechen begehen. Diese seien eben nur zu verstehen, wenn man das Leben einbeziehe, das diese Kinder hatten ertragen müssen.
Der dramatische Kampf von Bryan Stevenson um Walter McMillian, einen Schwarzen, schlägt den Bogen, in dem die vielen anderen brillant erzählten Fälle und klugen kriminalpolitischen Kommentare eingeschlossen sind. McMillian warf man im Juni 1987 vor, eine weiße Frau ermordet zu haben. Dafür gab es zwar keinerlei Beweise, aber er verbrachte viele Jahre in der Todeszelle. Walter McMillian war schließlich der 50. Unschuldige, der in den USA nach einem Todesurteil dann doch noch freigesprochen worden ist.
Das Schicksal dieses Mannes widerlegt eindeutig das Märchen von der Gerechtigkeit und der Verlässlichkeit des Staates, das Politiker und Juristen gern erzählen, wenn sie mehr Hinrichtungen verlangen. Einige Politiker tönten nach McMillians Freispruch sogar, seine Entlassung sei ein Beweis dafür, dass »das System funktioniere«. Immer so, wie man es braucht. Der haarsträubende Fall von Walter McMillian zeigte dem Autor auch, dass Angst und Zorn die Feinde der Gerechtigkeit sind, sie eine Gesellschaft infizieren und Menschen blind, irrational und gefährlich machen können.
Die Masseninhaftierung hinterlässt Monumente erbarmungsloser Bestrafung und verwüstet die Gesellschaft, nur weil in unserer Hoffnungslosigkeit zu schnell verurteilt wird und die Schwächsten ausgestoßen werden. Stevenson bringt diese Wahrheit brillant auf den Punkt: Bei der Todesstrafe geht es nicht um die Frage, ob Menschen für ihre Verbrechen den Tod verdient haben. Die eigentliche Frage lautet: Haben wir es verdient zu töten?
Seine Schlussworte vor Gericht in diesem Fall sind als ein Programm aufzufassen: »Es war viel zu einfach, diesen Mann für etwas anzuklagen und zum Tode zu verurteilen, was er nicht getan hat, und es war viel zu schwer, ihn nach dem Beweis seiner Unschuld wieder freizubekommen. Wir haben in diesem Staat gravierende Probleme und viel Arbeit vor uns.«
Ein spannendes, packend geschriebenes Buch, das uns Hoffnung gibt, dass sich auch in den USA, dem viel gepriesenen Land der Gerechtigkeit und Freiheit, immer mehr Menschen erheben werden, um der allgegenwärtigen Polizeiwillkür und dem erdrückenden Justizunrecht den schonungslosen Kampf anzusagen. Für Sympathisanten und Unterstützer gibt es einen Aufruf und die Kontaktdaten: www.eji.org oder auch contact_us@eji.org.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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