Staatsaffäre Popmusik

Xavier Naidoo, der European Song Contest und die Renationalisierung der Musikkritik

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 4 Min.
Nichts mehr los in der Welt als Krieg und Terror? Weit gefehlt. Endlich hatte die Nation mal wieder ein Thema. Eines, das Bedeutung hat: Xavier Naidoo darf die Nation nicht beim European Song Contest vertreten!

Nichts mehr los in der Welt als Krieg und Terror? Weit gefehlt. Endlich hatte die Nation mal wieder ein Thema. Eines, das Bedeutung hat und die Einzelnen zu einem Wir vereint: Xavier Naidoo darf die Nation nicht beim European Song Contest (ESC) vertreten! Das dröhnte tagelang von der Titelseite der »Bild« über »Tagesschau« und »Spiegel« bis in die linke Medienwelt. Und so kam es: Am Samstag machte, prominent platziert in den Abendnachrichten, die Neuigkeit die Runde, dass der federführende NDR einen Rückzieher macht.

Es hat Naidoo wenig geholfen, dass er, wiewohl sein Zuckersoul natürlich Geschmackssache ist, im Gegensatz zu jüngst entsandten MusikdarstellerInnen etwas vom Fach versteht und womöglich einen eigenen Song abgeliefert hätte statt des üblichen Schrotts aus den Hitfabriken. Es hat ihm auch nicht geholfen, dass er jüngst in einem Brief an die Kanzlerin gemeinsam mit etwa den »Ärzten« und Nena für die gleichgestellte »Ehe für alle« plädiert hat oder mit dem Projekt »Brothers Keepers« langjährig gegen Rassismus eingetreten ist. Gemessen wurde er an Ausführungen, die nach Sympathie mit rechtsobskurantistischen Sektierern klangen oder an Songtexten, die sich als homophob oder gar antisemitisch auslegen ließen. Man befand, dass dieser Hintergrund kein guter Beitrag sei zu dem vor allem in der schwullesbischen und Queerkultur populären TV-Event. Xavier Naidoo? Das ist nicht Deutschland!

Ende gut, alles gut, könnte man nun schmunzeln. Man kann die Marginalie aber auch eine Sekunde ernst nehmen und fragen, was diese Kritik über die Art sagt, in der hierzulande über Pop gesprochen wird.

Das eine dabei ist, dass etwa »Bild« nun mit skandalisiert, was man zugleich propagiert. Der Text von »Wo sind« nämlich, jenes viel zitierten, als homophob deutbaren Duetts Naidoos mit dem Rapper Kool Savas, ist ja eine geschmacklose Zuspitzung jener voyeuristischen Kampagnen über »Kinderschänder«, von denen der Boulevard trieft: »Ihr tötet Kinder und Föten und ich zerquetsch euch die Klöten (…) Warum liebst du keine Möse, weil jeder Mensch doch aus einer ist (...)«.

Fast noch bedenklicher ist aber das Einstimmen eines sich links gerierenden Kennertums in den Chor der falsch verstandenen Nation. Vor zehn Jahren noch hätte man sich auf die Realität bezogen statt auf deren glitzernde Repräsentation. Bitter hätte man aufgelacht, dass ein Land, das nicht nur im Steuerrecht von patriarchalen Mustern durchzogen ist und aktuell von aufsteigendem nationalem Sentiment befallen, von Naidoo sehr wohl versinnbildlicht werde. Ansonsten hätte man sich so demonstrativ aus der Debatte gehalten, wie es das schönste polnische Sprichwort empfiehlt: »Nicht mein Zirkus, nicht meine Affen!«

Hätte damals der »Spiegel« gegreint, ob denn Naidoo »bei so einer Veranstaltung für Deutschland antreten« dürfe, die »ein repräsentatives, fast staatstragendes Element« habe, hätte man auf das Staatstragende gespuckt und die Reste des Emanzipatorischen im Pop - Heimatlosigkeit, Nationenblindheit, Motive des Von-Zuhause-Weglaufens und Etwas-Besseres-Findens - gegen ein warenförmiges Nationalspektakel Marke ESC verteidigt.

Nun aber fällt den Resten der inländischen Popavantgarde zu ebendieser Frage nicht mehr ein als ein Aufschrei der Empörung. Diejenigen, die es ansonsten für emanzipatorisch halten, bei Fußball-Länderspielen im Trikot des Gegners aufzulaufen oder »Prolls« die Fahne wegzunehmen, trommelten nun für eine angemessene Vertretung des Vaterlands.

Den Gipfel markierte eine in der Kritikerzunft populäre Petition, nach der statt Naidoo die Drei-Akkorde-Band »Kassierer« für Schwarzrotgold rocken sollte. »Nach den Pleiten der vergangenen Jahre sind wir uns sicher, auch auf einer internationalen Bühne punkten zu können«, verlautbarte die Kombo. Und die Auguren des Antiessenzialismus likten und teilten dies, als bezahle man sie im Akkord: Punkrock für die Nation! Das wäre dann auch eine Alternative für Deutschland.

Nicht weniger als die Nominierung Naidoos markiert diese Art der Kritik daran den größten auszudenkenden Unfall in Sachen ESC: dass man diesen nämlich als Länderkampf ernst nimmt. Dass man, selbst wenn sie nicht gewinnen sollten, stolz sein will auf die dortigen Vertreter der Nation, dass man sich mit ihnen »identifizieren« können möchte.

Seinen Wiederaufstieg hatte der angestaubte ESC im Deutschland der späten 1990er Jahre durch Nonsensnummern wie Guildo Horn genommen, von denen niemand im Ernst erwartete, irgendetwas zu repräsentieren. Sie setzten das im Grunde widersinnige Format einer Pop-EM in Gänsefüßchen. Diese Ironie ist nun gestrichen. Man will Ernsthaftes noch im buntesten Flitter, man will Bedeutung, einen schwarzrotgüldenen Beitrag zu einer »Sache«.

So markiert die Staatsaffäre um den deutschen ESC-Beitrag nichts anders als einen Meilenstein der Re-Nationalisierung von Popkritik.

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