Man achte auf das Lama
Wiedergesehen: »Film Socialisme« von Jahrhundertregisseur Jean-Luc Godard - der an diesem Donnerstag 85 wird
Sozialismus als Idee. Sie hat eine Chance - aber lediglich dort, wo von dieser Idee nur gestammelt, gerätselt, in Ahnungen fabuliert wird. Jede eindeutige Definition des Ziels wäre erneut nur wieder eine von vielen Möglichkeiten, sich gewaltig zu irren. Einzig wer den Weg nicht kennt, könnte der Reiseleiter ins ominöse »Sozialistische« sein. Ins Freie also, das doch jene Fremde nicht aufheben wird, die mit jedem Menschenleben neu in die Welt kommt. Wer es ernst meint mit der Fantasie vom Sozialismus, der fängt um Himmels willen nicht wieder an mit Wissenschaft oder Gesetz oder klarem Kurs. Gehen ohne Last, also ohne ein einziges Pro-Gramm Rezept.
»Film Socialisme« heißt das große Alterswerk von Juan-Luc Godard, 2010 gedreht. Knapp hundert Minuten - eine Kernzeit für die Erfahrung, wie man, als Regisseur, auf hochintelligente Art zerfahren sein kann; und für den Zuschauer eine Sternstunde im Labyrinth. Das Labyrinth ist die Welt; ist das simultane Werden und Vergehen aller Menschentaten - Godard attackiert labyrinthisch jenen Eifer, mit dem wir alles so ehrgeizig wahrnehmen und werten, und mit dem wir in alle Dinge so beflissen klug eindringen wollen. Als Gerechtfertigte. Als Gewissheitsbegnadete. Und? Immer wieder bleiben wir stecken im kargen Verstehensansatz, was diese Welt hält, bewegt, bedeutet. Besser klingt den Idioten des Katechismus natürlich: Fortschritt - doch sei’s drum: Was immer wir erforschen und erfassen, es bleiben Verstehensansätze. Aber wie lächerlich, und wie verbrecherisch: Dafür (um das alles Sozialismus nennen zu dürfen) mobilisierten wir Vorsätze, Grundsätze, Umsätze, Lehrsätze, Sprengsätze - und wer nicht spurte, wurde (das ist nicht abgeschafft) Aussätziger.
Godard, Mitbegründer des französischen Autorenfilms, zeigt uns im Spiel- wie Dokumentarstreifen »Film Socialisme« essayistisch verschlüsselt, wuchernd splittrig, im Grunde total autistisch, wie tragisch jeder Träumer enden muss, der sich einbildet, die wirkliche Liebe sei zu einer Umgangsform zu entwickeln, die sich sozial begründen und festigen lässt. Godard porträtiert das 20. Jahrhundert als Wirrfeld, als Irrzeit. Ungelöste Kriminalfälle, politische Verbrechen, Katastrophen am Rand der »großen Erzählungen« des Zweiten Weltkriegs, des Kalten Krieges und der Kolonialkriege - alles fügt sich zu einem flüchtigen Puzzle.
Freilich: Godard ist trotz allem ein revolutionärer Denker mit kriegerischem Stachel (»wenn das Gesetz nicht gerecht ist, hat die Gerechtigkeit Vorrang vor dem Gesetz«), er bleibt kompromisslos auf der Seite der Unterlegenen, trauernd mit den Unverstandenen der Geschichte. Dialog im Film: »Geld ist ein öffentliches Gut.« - »Wie das Wasser?« - »Genau.« Geht es radikaler, hoffender, hin zu anderen Verhältnissen?
Der Film hat drei Teile. Erstens: eine Kreuzfahrt im Mittelmeer - rasch ist der Geist in Byzanz, Rom, Griechenland, Ägypten. An Bord sind ein Kriegsverbrecher, ein französischer Philosoph, eine Polizistin aus Moskau, eine amerikanische Sängerin, ein Botschafter. Ein Panoptikum. Aber das ist sie, die Welt in uns - in uns hat alles Platz, was wir nach außen hin bekämpfen. Auch jeder Feind hat in uns Platz, und er reist mit in das, was Sozialismus sein könnte. Wir sind reicher und gespaltener, als wir zugeben dürfen.
Der zweite Filmteil schildert eine Klein(bürger)familie. Das Elend, die Hemmungen, die Aggressivität eines Lebens unter Druck. Das Fernsehen kommt und benimmt sich, als gäbe es schon RTL 2. Da fällt der grandiose Satz einer der Töchter des Hauses: »Wenn Sie Scherze über Balzac machen, werde ich Sie töten.« Im dritten Filmteil dann Eisenstein, griechisches Theater, Barças Iniesta in Zeitlupe. Wieder Mosaike, Splitter, Schrifttafeln, Einschübe, zerhackte Geräusche, wie im ersten Teil das verrauschte Singen und Toben des Meeres. Mit Filmruinen Aufbau einer Kleckerburg - sei also zuschauend Kind, freu dich, wie in dir die Logik abstürzt und die Vernunft resigniert abdreht. Irgendwann beim Zuschauen kannst du nicht mehr, willst du nicht mehr und spürst aber: Jetzt bist du ans Wesen gekommen - es ist so schön, nicht mehr klüger sein zu wollen als dies hier, das dich überfällt, überwächst.
Godard, geboren 1930, hat Welterfolge gedreht (»Außer Atem«, »Die Verachtung«); er ist für die Kinematographie der letzte Einsame des vergangenen Jahrhunderts. Bizarr in seiner Isolationslust. Er drehte Filme gegen das, was sich als Begriff vom Kino durchsetzte - beim gnadenlosen Vormarsch der Konsumentalität.
Eine junge Frau steht an einer Tankstelle. Neben ihr ein Lama. Sie liest Balzacs »Verlorene Illusionen«. Deutsche Touristen fragen, wo es denn zur Côte d’Azur gehe. Sie sagt: »Marschiert doch woanders ein!« Sie brüllen: »Scheiß-Frankreich!«. Und sie seufzt: »Ach, Deutschland!« Romantik und Räuberei, Wesen und Wandlung, Wehrmacht und Wermut - schwere Interpretationskost? Missachten wir das Lama nicht, das darauf verzichtet, zu spucken. Godard ist ein großer Komiker. Mit Sinn fürs Kreatürliche. Das Kreatürliche hält die Existenz. Wie viel Sozialismus hält es aus? Oder auf?
Die Rede ist im Film auch von Napoleon vor Moskau: Am Tag, als er die brennende Stadt verlässt, hat er das Dekret zur Gründung der Comedie Française erlassen. Godard wie Alexander Kluge: Das Spannende ist immer das Unvereinbare - das aber gleichzeitig geschieht. Und eines treibt das andere. Lust und Leid, das Paar. Godard wie die Gegenwart. Um den Klimagipfel in Paris bangen, aber doch weiter den gut gebratenen Fisch genießen. Vom Anschlag in Paris hören und sich irgendwann in der Nacht eben doch fragen, wieso Deutschland 0:2 gegen Frankreich verlor. Wie es Kafka aufschrieb: Beginn des Weltkrieges - 14 Uhr Schwimmschule. Dialektik ist Diabolik.
Film Socialisme. filmedition suhrkamp. DVD. Booklet mit Texten von Klaus Theweleit und Claus Löser. 17,99 €.
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