Eine Lektion in Staatsbürgerkunde

Udo di Fabio will dem »Schwankenden Westen« auf die Sprünge helfen - und erfüllt die Erwartungen nur bedingt

  • Stefan Kleie
  • Lesedauer: 3 Min.

Ehemalige Bundesverfassungsrichter fallen im politisch-medialen Betrieb nicht nur durch ihre gleichsam entrückte Stellung, sondern zuweilen auch durch besondere rhetorische Begabung auf; man denke nur an Ernst-Wolfgang Böckenförde oder Jutta Limbach. Als Vertreter eines liberalen Konservatismus hat sich nun Udo di Fabio in die Debatte um eine »deutsche Leitkultur« bzw. »westliche Werte« - die Begriffe werden nahezu synonym verwendet - eingeschaltet. Das Buch, das in der aktuellen Flüchtlingskrise wie gerufen kommt, erfüllt die hohen Erwartungen indes nur bedingt.

Zahlreiche Krisensymptome der westlichen Gesellschaft werden lediglich referiert. »Die Gewalt kehrt zurück«, fasst er die außenpolitische Situation zusammen, während der Gesellschaft durch Digitalisierung und Internet »Infantilisierung und Regression« drohen. Es geht kaum holzschnitthafter. Das trifft auch auf die verschiedenen Zukunftsszenarien am Ende zu.

Di Fabio hätte sich auf seine Theorie der Institutionen beschränken sollen, die eng an die Prämisse personaler Freiheit angelehnt ist, ja aus dieser entwickelt wird. Institutionen verkörpern demnach den in einer Verfassung kodifizierten »normativen Kern« einer Gesellschaft (etwa Rechtsstaat, Ehe, Demokratie) und verbinden Sinnstiftung mit der Organisation des Kollektivs als Funktionssysteme einer Gesellschaft (etwa Recht, Religion, Wissenschaft).

Als Grundthese des Autors und zugleich als eine Art »westliches Credo« könnte man zusammenfassen, dass sich die Freiheit des Einzelnen paradoxerweise nur innerhalb der Funktionslogik der neuzeitlichen Gesellschaft verwirklichen lässt, d. h. im Rahmen von Privatrechtsordnung, Marktwirtschaft, Rechtsstaat und (repräsentativer) Demokratie. Gefährdet ist dieses Gleichgewicht, wenn einerseits »staatsablehnende Radikal-Liberalität« zur Aushöhlung des Vertrauens in die Institutionen führt oder andererseits durch »Mehrheitspaternalismus« eine Gängelung des Individuums und die ideologische Indienstnahme des Rechtsstaates durch politische Vorgaben und social engineering erfolgt.

Ähnliches wiederholt sich in der politischen Debatte zwischen Links und Rechts, die im Wesentlichen entlang der Grenze zwischen den beiden mächtigsten Funktionssystemen Politik und Ökonomie geführt wird: Anhänger der Marktwirtschaft beklagen Eingriffe des Staates in die Eigengesetzlichkeiten des Marktes, Kapitalismuskritiker das Einsickern und die Dominanz ökonomischer Kriterien im staatlichen Aufgabenbereich. Laut di Fabio setzen sich Demokratie und Marktwirtschaft jedoch in einer strukturellen Koppelung gegenseitig voraus. Demokratie ohne Markt (»demokratischer Sozialismus«) sei auf lange Sicht ebenso unmöglich wie Markt ohne Demokratie (»Modell China«). Es leuchtet ein, dass eine plötzlich reich gewordene Mittelschicht wie in China irgendwann mit eigenem Selbstbewusstsein gegen die ideologischen und bürokratischen Zumutungen durch Partei und Staat aufbegehren wird. Umgekehrt funktioniere bürgerliche Selbstregierung »nur in einer vernünftigen merkantilen Kultur«. Hier folgt das Loblied der Eigenverantwortung, die Prämisse personaler Freiheit ins Ökonomische gewendet: Arbeitsethos, Selbstdisziplin, Kreativität, Unternehmergeist.

Die Betonung des Individualismus und der Eigenverantwortung führt bei di Fabio etwa dazu, das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) als Ausdruck eines »methodischen Kollektivismus einer Anspruchsgesellschaft« abzulehnen. Hier fehle die für eine Demokratie unverzichtbare »existentielle Erfahrung der Selbstverantwortung für das eigene Einkommen«. So ähnlich formulieren linke Gewerkschaftler ihre Ablehnung des BGE (»Wert der Arbeit«), während Befürworter von Katja Kipping bis Götz Werner ihrerseits individualistisch und humanistisch argumentieren (»Zeit für Muße«).

»Schwankender Westen« wurde vor der Flüchtlingskrise und der Verrohung des politischen Diskurses geschrieben. Optimismus und Sachlichkeit, die dieses Buch auszeichnen, sind heute ein rares Gut. Das Vertrauen in die personale Freiheit und die begründete Hoffnung, »rationale Weltgestaltung« mit einer »Praxis des guten Lebens« zusammenzubringen - das könnte sie sein, die Minimalformel eines Westens, der an seine eigene Zukunft glaubt. Kümmern wir uns also um die Details.

Udo di Fabio: Schwankender Westen. Wie sich ein Gesellschaftsmodell neu erfinden muss. C.H. Beck, München 2015. 272 S., geb., 19,95 €.

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