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Goldmedaille für «die Pille»

Wie Arznei zur Schwangerschaftsverhütung in der DDR selbstverständlich wurde. Von Silvia Ottow

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Pille war bekannt als das Ding, das man als Mädchen eben nimmt, wenn es soweit ist. Also, Kondom war zum Beispiel völlig ..., kannt’ ich überhaupt nicht. Vielleicht vom Hörensagen, aber wir fanden das extrem altmodisch. Für uns war das, glaube ich, der Fortschritt mit der Pille.«

Die Frau, die das erzählt, wurde 1961 in der DDR geboren. Mit 16 Jahren nahm sie »die Pille« - wie viele junge Frauen in dieser Zeit, die lernten oder studierten. Vielleicht spricht Nina Ahrend deswegen so selbstverständlich in der Mehrzahl über ein ganz intimes Detail ihres Lebens, weil sie zu einer Gruppe von Menschen gehörte, die ganz offen mit der Empfängnisverhütung umzugehen begannen. Das war zweifellos ein enormer Fortschritt dieser Frauen gegenüber ihren Müttern. In deren Generation hatte die Angst vor einer Schwangerschaft den Sex beherrscht. Nicht nur vor einer Ehe, sondern auch während dieser Partnerschaft, denn nicht selten waren die materiellen Bedingungen schlecht oder die Zahl der Kinder zu groß, als dass man ihren Bedürfnissen halbwegs hätte Rechnung tragen können. Man hatte - oder besser gesagt: frau hatte - rechnen müssen, um den Geschlechtsverkehr auf die unfruchtbaren Tage des weiblichen Körpers zu verschieben. Oder beide hatten »aufzupassen«, wie die vornehme Umschreibung des coitus interruptus lautete, bei dem es der Mann schaffen musste, eine Ejakulation in die Vagina der Frau zu verhindern. Leider war diese Methode auch nicht hundertprozentig sicher, so dass es immer wieder zu illegalen Abtreibungen kam, die wiederum nicht selten tödlich endeten.

Für Nina Ahrend war das alles kein Thema mehr. Sie konnte ganz selbstbewusst mit ihrem Körper umgehen und vollkommen angstfrei sexuelle Erfahrungen machen. Kinder hat sie dennoch bekommen, nach dem Studium, als sie ihr Diplom als Filmwissenschaftlerin und Dramaturgin in der Tasche hatte. Die »Wunschkindpille«, wie man das Hormonpräparat zur Verhinderung einer Befruchtung in der DDR einige Jahre nach seiner Einführung nennen sollte, wurde bei Nina Ahrend ihrer euphemistischen Bezeichnung durchaus gerecht. Und nicht nur bei ihr war das so, wie wir aus den lebensgeschichtlichen Interviews wissen, die Annette Leo und Christian König, zwei Wissenschaftler, für ihre umfangreiche Untersuchung weiblicher Erfahrungen und staatlicher Geburtenpolitik in der DDR führten und unter dem Titel »Die ›Wunschkindpille‹ « veröffentlichten. Doch weder die hormonelle Verhütung noch die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruches in der DDR, die 1972 erfolgte, waren zu irgendeiner Zeit selbstverständlicher Standard oder gar allgemeiner gesellschaftlicher Konsens, wie Leo und König anhand unzähliger Dokumente aus Kirchengremien, Frauenorganisationen, Pharmabetrieben, Parteien, Universitäten, Zeitschriften und Zeitungen herausfanden. Diese Unterlagen und bemerkenswert sensibel geführte Interviews bestätigten, dass die Verhütung mittels Pille und die Erleichterung eines Schwangerschaftsabbruches in der DDR keine Selbstläufer waren, weil etwa Frauen und Männer so fortschrittlich dachten. Sie entwickelten sich eher in einem Geflecht von Partikularinteressen, ökonomischen Zwängen und ideologischen Beweggründen. Öffentlich kommuniziert wurde das freilich nicht. Während sich die Auseinandersetzungen um Sexualmoral und Selbstbestimmung der Frauen in den 60er Jahren in der Bundesrepublik quasi auf der Straße zutrugen, spielten sich ähnliche Vorgänge in der DDR hinter den Kulissen ab. »Die Pille musste nicht erkämpft werden, sie wurde den Frauen auf dem Tablett serviert, versehen mit einer unübersehbaren Gebrauchsanleitung, einer bevölkerungspolitischen Botschaft«, schreiben Leo und König. Und die Botschaft lautete: Bekommt Kinder und verbindet das möglichst geschickt mit Ausbildung und Arbeit.

1965 hatte der Volkseigene Betrieb Jenapharm auf der Leipziger Frühjahrsmesse den Nachbau eines Hormonpräparates der westdeutschen Firma Merck präsentiert, die Antibabypille Ovosiston. Sie erhielt sofort ihre Zulassung, wurde mit einer Goldmedaille ausgezeichnet und machte den DDR-Vorzeigebetrieb zum führenden Hersteller in Mittel- und Osteuropa, denn im Vergleich zu anderen Firmen war es ihm gelungen, die Ausgangsstoffe vollsynthetisch herzustellen und damit von Importen unabhängig zu produzieren. Das war aus finanziellen Gründen wichtig für die DDR. Sie konnte nur wenige Jahre nach der Zulassung eines hormonellen Verhütungsmittels in den USA ein eigenes Produkt anbieten. Erfunden hatte es 1951 der Chemiker Carl Djerassi, als er im Labor Norethisteron synthetisierte, den ersten Wirkstoff für die hormonale Verhütung. Wenig später hatte der US-Physiologe Gregory Pincus die erste Antibabypille hergestellt. 1960 kam sie auf den amerikanischen Markt.

Dass die Entwicklung in der DDR in diesem Falle so zügig verlief, hatte ganz realistische Gründe. Nachdem die liberalen Abtreibungsgepflogenheiten der Nachkriegsjahre 1950 von einem Mutterschutzgesetz abgelöst worden waren, das den Abbruch einer Schwangerschaft nur bei medizinischer Indikation erlaubte, hatte die Zahl der illegalen Schwangerschaftsabbrüche zugenommen. Außerdem wurde in den verschiedensten Partei- und Kirchengremien der Unmut von Frauen laut, die ganz gut begriffen hatten, dass vor allem ihre Arbeitskraft gefragt war, während sie mit der Familienarbeit allein blieben. Das alles sollte sich ändern. Mit Hilfe der Pille sollten Mutterschaft und Berufstätigkeit besser unter einen Hut gebracht werden. So kam wohl auch der Name »Wunschkindpille« zustande, den ein Rostocker Gynäkologe Ende der 60er Jahre prägte. Das kann man belächeln - aber werden nicht auch heute Begriffe geprägt, die eher der Verschleierung als der tatsächlichen Bezeichnung der Dinge dienen?

Anfangs musste die Pille übrigens auch in der DDR bezahlt werden, die Monatspackung kostete sieben Mark. Später wurde der Preis halbiert, dann gab es sie kostenlos. Das Prozedere hatte mit mangelndem Zuspruch für das Verhütungsmittel zu tun. Mit Argumentationshilfen aus Ministerien und Behörden, ja sogar Werbung in den Medien wurde der Verbrauch angekurbelt. 1972 gab es bereits 850 000 Pillennutzerinnen, obgleich die Präparate bei einigen Frauen gehörige Nebenwirkungen wie Übelkeit oder den Verlust der Libido hervorriefen. Wegen Nebenwirkungen nahm die Pharmafirma Merck jenseits der Grenze ihr Präparat vom Markt. In der DDR wurde das nicht sehr ernst genommen. Zu Recht übrigens, wie sich später glücklicherweise herausstellte.

Wie auch immer Wunschkindpille und Abtreibung den schnellen Weg in die DDR-Wirklichkeit gefunden hatten - Frauen konnten nach einigen Jahrzehnten Erfahrung mit diesen Rahmenbedingungen sehr selbstbewusst und selbstbestimmt in den 90er Jahren in die andere Gesellschaft gehen. Doch der frauenpolitische Vorsprung ist dahin. Frauen müssen die Pille jetzt bezahlen, wenn sie über 20 Jahre alt sind, und können nie vor Pharmaskandalen sicher sein. So sind momentan neue Pillen mit dem Wirkstoff Drospirenon auf dem Markt, die ein doppeltes Embolie- und Thromboserisiko im Vergleich zu den alten haben sollen. Es gab Todesfälle; im Dezember beginnt ein Prozess gegen den deutschen Hersteller. Und was vielleicht noch schwerer wiegt: Den Schwangerschaftsabbruch per Gesetz gibt es nur nach einer erzwungenen Offenbarung der Gründe. Ein Gnadenakt ersetzt die Selbstbestimmung.

Anette Leo, Christian König: Die »Wunschkindpille«. Weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpolitik in der DDR. Wallstein Verlag, 314 S., 29,90 €.

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