Abraham war ein Zugvogel

Ein Jüdischer Almanach zum Thema »Grenzen« bündelt Essays von 18 Wissenschaftlern und Publizisten

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Begriff »Grenze« assoziiert sehr vieles: Linie, Mauer, Zaun, Tür, Durchgang, Übergang, Kontrolle, Sicherheit, Flucht, Vertreibung, Exil, Bewegung, Trennung, Veränderung. Es lassen sich noch weit mehr Begriffe finden, reale geografische, politische, historische wie auch soziale, mentale, seelische. Eine Grenze hat immer zwei Seiten, zwei Gesichter, eins zum Diesseits und eins zum Jenseits.

Nicht zufällig sind es sehr oft Gegensatzpaare, die sich mit dem Wort »Grenze« verbinden: offen - verschlossen, Nähe - Ferne, Heimat - Fremde, Abschied - Ankunft, verlieren - gewinnen. Zali Gurevitch unterscheidet in seinem Beitrag zum Almanach mit dem Titel »Über die Verortung von Grenzen« sogar zwischen »breiten« und »schmalen« Grenzen. Die breite Grenze, so Gurevitch, verschließt, die schmale öffnet. Das erstaunt, wird aber im Kontext einsichtig: Der schmale Weg im Grenzland zieht den »ruhelosen, erschütterten« Blick hin zum jenseitigen Horizont. Drüben aber bleibt der Mensch seiner alten Welt verhaftet. Übergänge schaffen Identitätsprobleme.

Damit ist ein wichtiger Aspekt des Themas »Exil« benannt, das mit Begriffen wie »Schleuse« oder »Illegalität« erschreckende Aktualität erhält, zusammengefügt mit der drängenden Problematik der ungelösten Grenzfrage des heutigen Israel. Die Autorengemeinschaft dieses Essaybandes ist international, die meisten der achtzehn hier vertretenen Wissenschaftler und Publizisten leben und lehren in Israel. Die Herausgeberin Gisela Dachs bündelt und verortet in ihrer Einführung die vielfältigen Aspekte der Beiträge. Im Eröffnungstext über den jüdisch-religiösen Begriff »Eruv« (Abgrenzung) malt Astrid von Busekist das schöne (Wunsch-)Bild einer Grenze, die nur aus Türen und Durchgängen besteht. Davon ist die Wirklichkeit allerdings weit entfernt.

Eine »Hauptrolle« beim Grenzeüberschreiten spielte und spielt der Pass. Der Erfahrung mit Reisedokumenten widmen sich zwei Beiträge. Wir kennen die gelungenen oder misslungenen Fluchtgeschichten bekannter Persönlichkeiten von Feuchtwanger über Seghers bis Benjamin, nicht aber das Schicksal Tausender Namenloser. Umso wichtiger sind deren Geschichten. Erschütternd ist eine Art Protokoll über die illegale Flucht dreier Juden, die im August 1942 bei Genf die Grenze zwischen Italien und der Schweiz überwanden, von der Schweizer Polizei aber an die Deutschen im besetzten Frankreich übergeben und von dort wenig später nach Auschwitz deportiert wurden.

Am Beispiel der Bukowina mit ständig wechselnden nationalen Zugehörigkeiten macht David Rechter deutlich, wie gerade in diesem Grenzland am östlichen europäischen Rand ein Stück blühender jüdischer Kultur möglich war. Der Mythos vom ewig wandernden Juden darf nicht fehlen. Er war schon im jüdischen Gründungsmythos angelegt. »Abraham war ein Zugvogel«, schreibt Galit Hasan-Rokem und erinnert an weitere Wanderschaften des jüdischen Volkes. Die letztgenannten Texte sind inhaltlich eng verbunden mit Natan Sznaiders Unterscheidung zwischen Exil als »jüdisches Trauma« und Diaspora als »transnational vernetzte«, grenzübergreifende Gemeinschaft.

Ins weitere Umfeld des Themas gehören herausragende Leistungen von Juden als Ausdruck ihres Behauptungswillens, die große Zahl jüdischer Nobelpreisträger ebenso wie die Erfindung von beliebten Comicfiguren in Amerika. Grenzwege führen Peter Stephan Jungk in das Labyrinth der Geheimakten des KGB, nicht aber zum gesuchten Ziel. Aufgrund ihrer Aktualität kommt den drei Beiträgen zur Israel-Frage besonderes Gewicht zu. David Newman schildert das »geopolitische Dilemma« des Landes mit fünf Landgrenzen, der Grenze zum Meer und der so genannten »Grünen Linie«, einer »möglichen« Grenzlinie zu einem zukünftigen Palästina.

Für zwei Autorinnen verbinden sich damit die Themen Reservedienst und Liebe zwischen einer Jüdin und einem Palästinenser. Ein Sonnenuntergang hinter jüdischen Siedlerhäusern, von einem Hochhaus in Ramallah aus gefilmt, führt Dorit Rabinyan die Grenzen ihrer Liebe vor Augen. Dass das Übersetzen von Texten oder die Spurensuche mit der Kamera auch Grenzerfahrungen sind, verdeutlichen Text- und Bildbeiträge, die das Thema abrunden. Allerdings ist es so facettenreich, dass es zu weiteren Überlegungen und eventuellen Kontroversen anregt.

Gisela Dachs (Hrsg.): Grenzen. Jüdischer Almanach des Leo Baeck Instituts Jerusalem. Mit Beiträgen von Astrid von Busekist, Zali Gurevitch, Peter Stephan Jungk, Dorit Rabinyan, Natan Sznaider und vielen anderen. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 209 S., br., 16,95 €.

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