Gefährliche Orientierungslosigkeit
Die Sozialdemokratie, die arbeitende Mitte und die Linke. Ein Gastbeitrag von Joachim Bischoff und Björn Radke
SPD-Chef Sigmar Gabriel weist seiner Partei den Weg aus dem Zustimmungstief: »Politik braucht Klarheit. Und die haben wir jetzt. Die SPD muss auf die arbeitende Mitte der Gesellschaft zielen. Politik für Minderheiten muss die SPD auch immer machen. Aber die Solidarität und der Schutz von Minderheiten werden erst mehrheitsfähig, wenn die arbeitende Mehrheit des Landes weiß, dass sie bei uns gut aufgehoben ist.«
Und er fügt in dem Interview mit der FAZ vom 6. Januar hinzu: »Dass wir uns um Arbeit und Einkommen kümmern, um Bildung und um faire Teilhabe am Haben und am Sagen im Land. Ich glaube, dass wir den Kurs jetzt konsequent bis 2017 und danach fortsetzen werden.«
Weiß aber die arbeitende Mitte umgekehrt, dass ihre Interessen und Zukunftserwartungen bei der Sozialdemokratie gut aufgehoben sind? Blickt man auf die Umfragewerte, dann beschleichen einen starke Zweifel über den Realitätsgehalt der These des SPD-Vorsitzenden. Zu Beginn des Jahres sackt die SPD auf Bundesebene ab auf 22,5 Prozent, und droht damit noch unter ihre schlechtesten Werte von 2009 (23 Prozent) zu fallen. Nach den Umfragen der Meinungsinstitute schwanken die Werte (je nach Präferenz der Institute) zwischen 22 und 25 Prozent. Harter Fakt ist: Nicht einmal ein sicheres Viertel der Wahlbevölkerung spricht sich für die Sozialdemokraten aus. Ein relevanter Teil der arbeitenden Mitte sieht sich offensichtlich politisch an anderer Stelle besser aufgehoben.
CDU/CSU und Grüne verbessern ihre Zustimmung, sie kommen nun auf 36 Prozent beziehungsweise 10 Prozent Zustimmung. Linke (10 Prozent) und FDP (5 Prozent) verloren jeweils einen Punkt, die AfD blieb stabil bei 9,5 Prozent. Fast jede/r fünfte Wahlberechtigte (18,5 Prozent) gab an, dass er/sie an der nächsten Bundestagswahl nicht teilnehmen will. Von denjenigen, die sicher oder wahrscheinlich teilnehmen wollen, weiß fast jeder Vierte (23 Prozent) derzeit nicht, wen er wählen will.
Auch für die bevorstehenden Landtagswahlen im März sieht es für die SPD nicht gut aus: Für Rheinland-Pfalz hat der SPD-Chef die Wahl zur »Mutter aller Schlachten« in diesem Jahr ausgerufen. Dort liegt nach den letzten Umfragen die SPD nur bei 31 Prozent, die CDU bei 39 Prozent. Eine Fortführung der rot-grünen Koalition gilt als unwahrscheinlich. In Baden-Württemberg kommt die SPD in Umfragen auf 18 bis 19 Prozent – deutlich unter ihrem Ergebnis der Landtagswahl 2011 (23,1 Prozent). Die Grünen stehen zwischen 25 und 28 Prozent – 2011 waren es 24,2 Prozent. Und auch in Sachsen-Anhalt grenzt sich die SPD-Spitzenkandidatin Katrin Budde zwar zuletzt vom Koalitionspartner CDU ab, in Umfragen stürzte ihre Partei jedoch von zunächst 21 Prozent auf 15,5 Prozent Anfang Dezember ab.
Sigmar Gabriel hat sicherlich Recht, wenn er unterstreicht: »2017 wird es um die Frage gehen, wer die richtigen Antworten für die Zukunft unseres Landes hat.« Doch schon jetzt zeichnet sich die Reaktion eines Großteils der arbeitenden Mitte ab: Die SPD hat keine realitätstüchtigen Vorstellungen von der Zukunft des Landes. Mehr noch: Das sozialdemokratische Bild von der arbeitenden Mitte ist diffus und illusionär.
Auf dem Parteitag im Dezember 2015 umriss der Parteivorsitzende die Aufgabenstellung folgendermaßen: »Dass aus dem Leben was wird, ein gelungenes Leben, das muss jeder selber machen. Aber Bedingungen dafür schaffen, dass das Leben nicht von der Hautfarbe abhängt, nicht vom Einkommen der Eltern, nicht von Beziehungen, nicht von Rasse, Geschlecht oder Religion, sondern dass es möglich ist, dass jeder Mensch in diesem Land und in Europa aus seinem Leben etwas machen kann, selbstbestimmt und frei, das ist der Auftrag der Sozialdemokratie, liebe Genossinnen und Genossen.«
Das Programm hört sich gut an. Aber Teile der arbeitenden Mitte haben die Einschätzung, dass sie längst nicht mehr angemessen zu ihrer Arbeitsleistung am gesellschaftlichen Wohlstand beteiligt sind. Neue Daten zeigen, dass die Mittelschicht weiter schrumpft. Und ihre Position wird als fragil, gar bedroht eingeschätzt. Das Versprechen an alle BürgerInnen gilt eben nicht mehr: Wenn sich einer richtig anstrengt in der Ausbildung und danach im Beruf, kann er sich mehr leisten – Urlaub ohne Supersparpreise, ein Haus mit Garten, Rentenjahre mit dem gewohnten Konsumstandard, kurz: ein Leben, in dem er nicht auf jeden Euro schauen muss.
Während der ersten Jahrzehnte nach 1945 wurde dieses Versprechen zumindest für einen relevanten Teil der Bevölkerung meist eingelöst. Die außergewöhnlichen Anstrengungen zahlten sich für viele BürgerInnen aus. Es entstand eine breite Mittelschicht. Der Aufstieg in eine höhere Einkommensgruppe erschien für jeden zumindest möglich. An der sozialen Marktwirtschaft war nicht nur sozial, dass sie den Schwächeren half, sondern auch einer größeren Zahl von BürgerInnen einen gewissen Wohlstand ermöglichte.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich grundsätzlich etwas verändert. Dieser Wandel bedroht den Kern der arbeitenden Mitte. Es geht um das Versprechen, dass der Leistungswillen sich auch wirklich auszahlt – und eben nicht nur so zum Leben reicht. Dies ist mehr und mehr Vergangenheit und dieses Versagen wird der Sozialdemokratie zugeschrieben. Diese Erosion der gesellschaftlichen Mitte ist zugleich der Hintergrund für eine wachsende Affinität zum Rechtspopulismus – nicht nur in der Berliner Republik, sondern europaweit.
Das Erstarken des Rechtspopulismus hierzulande trägt zur Festigung der AfD als dessen politische Formation bei. Innerhalb der CDU/CSU wird dies genutzt, um innerparteilich rechte Positionen (Verschärfung des Asylrechts, Ausbau repressiver Elemente in der Gesetzgebung) mit dem Verweis durchzusetzen, die AfD würde der CDU sonst am rechten Rand Stimmen wegnehmen. Wie fragwürdig diese Strategie ist, zeigt sich daran, dass die AfD in allen anstehenden Landtagswahlen wohl die Fünf-Prozent-Hürde überspringen wird.
Das Führungspersonal der SPD zeigt in dieser Gemengelage eine große Orientierungslosigkeit. Einer der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden, Ralf Stegner, kritisiert in einem Hintergrundgespräch mit dpa die CDU/CSU und unterstellt ihr ein wohlwollendes Verhältnis zur AfD: »Mein Gefühl ist: Die Union setzt darauf, dass die AfD bei den kommenden Landtagswahlen in die Parlamente einzieht und damit progressive Mehrheiten dort nicht mehr möglich sind.«
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann gibt Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Gespräch mit der Welt am Sonntag eine Mitschuld am Erstarken der AfD: »Bodenständig Konservative haben in der CDU keine politische Heimat mehr... Merkel macht Millionen Bürger politisch heimatlos. Das ist ein schweres Versäumnis und ein Grund dafür, dass auch nicht extreme Wähler zur AfD abwandern.« Der Zulauf für die AfD liege vor allem daran, dass der Staat in der Flüchtlingskrise ein hilfloses und chaotisches Bild abgegeben habe.
Was will Oppermann damit sagen? Folgt man dieser »Logik«, bleibt nur die Aufforderung an die CDU, den Zug nach rechts zu bedienen. Die damit verknüpfte Hoffnung, der SPD würden dadurch mehr WählerInnen aus der Mitte zulaufen, hat mit den Realitäten nichts zu tun, sondern belegt einen geradezu selbstzerstörerischen Realitätsverlust der Sozialdemokratie.
Der Populismus ist eine Bewegung der unteren Mittelschicht in wohlhabenden Gesellschaften. BürgerInnen wählen, wenn sie denn wählen, populistische Parteien nicht, weil sie zufrieden sind. Sie sind unzufrieden damit, wie die Dinge laufen. Das hat damit zu tun, dass sie sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen. Sie glauben auch nicht, dass man das System funktionsfähig halten könnte. Das eigentliche Problem sind nicht die Parteien. Die Parteien sind nur das Symptom eines zugrunde liegenden Problems, das darin besteht, dass etwa 70 Prozent der Bevölkerung mit dem Establishment unzufrieden sind.
Dem hat die SPD nichts entgegenzusetzen. Die Leerstellen zwischen einer Kultur der Unternehmensgründung sowie der marktwirtschaftlicher Dynamik und der sich verstärkenden sozialen Spaltung sind zu offensichtlich. Angesichts größer werdender staatlicher Aufgaben, den Defiziten in der öffentlichen Infrastruktur und den maroden öffentlichen Finanzen kann linke Zukunftsgestaltung die Klippen des neuen Schuldenmachens oder unvermeidlicher Steuererhöhungen nicht umschiffen. Um die kommenden Aufgaben zu meistern, brauche man, so Gabriel, einen »kompetenten, gut finanzierten Staat«, also das Gegenteil des »konservativen Weltbilds«, bestehend aus den Fixpunkten »weniger Staat, weniger Steuern, weniger Regeln«.
Allerdings bleibt der SPD-Parteichef hinreichend vage, da er nicht von höheren Steuern spricht, sondern nur »gerechte Steuern« in Aussicht stellt. Konkrete Fragen des Hier und Jetzt lässt die Sozialdemokratie unbeantwortet, daher fehlt die Verdeutlichung der Unterschiede zur bürgerlichen Zukunftsvision – und den rückwärtsgewandten Zielvorstellungen der Rechtspopulisten.
Mit dem Slogan »Wir schreiben Deutschlands Zukunft mit« will die SPD vom Juniorpartner in der Großen Koalition zur Volkspartei der »arbeitenden Mitte« aufsteigen. Gabriel plädierte dafür, unter »bürgerliche Mitte« die Arbeitnehmer-Mitte zu verstehen und in das Zentrum der Politik zu rücken und er bietet der Sozialdemokratie und den WählerInnen eine bunte Palette an Zukunftsvisionen an: Vermeintlich lösungsorientiert und mit Kompass auf soziale Gerechtigkeit, doch der der rote Faden fehlt. Und über die unverzichtbaren Bedingungen der Verbesserung der Lage der arbeitenden Mitte redet die SPD nicht mehr, weil sie sich dem Tabu über die Verteilungsverhältnisse unterwirft.
Diese gefährliche Orientierungslosigkeit der Sozialdemokratie kann der politischen Linken nicht gleichgültig sein. Deshalb ist es gut, dass Petra Sitte, Jan Korte, Olaf Miemiec, Harald Pätzolt und Tobias Schulze in einem Beitrag im neuen deutschland das Problem richtig umreißen: »DIE LINKE sollte den Anspruch einer Linkswende im Land offensiv formulieren. Das ist, angesichts einer drohenden Rechtsentwicklung, die vernünftigste Entscheidung. Auch das, werden manche einwenden, hat man von den Linken schon gehört. Richtig! Neu wäre es, wenn die Machtfrage damit anders als bisher gestellt werden würde. Sagen wir es einmal so: Wer angesichts der Erfahrungen von Syriza, der portugiesischen Linken, von Podemos in Spanien oder r2g in Thüringen oder Brandenburg heute meint, dass es allemal besser sei, in Opposition zu verharren und auf gesellschaftliche Mehrheiten für was anderes zu warten, der ist heute nicht radikal links.«
Abgesehen von unnötigen Festschreibungen, was »radikal links« sei oder auch nicht, ist es sinnvoll und geboten, einen Anspruch für einen Politikwechsel offensiv zu formulieren. Dieser müsste jedoch mit konkreten Angeboten unterfüttert sein, um in den gesellschaftlichen Bereichen, die die AutorInnen im Blick haben, eine Debatte anzustoßen bzw. aufzugreifen (siehe auch den Beitrag von Michael Brie in der Januar-Ausgabe von Sozialismus).
»Es gilt kein parteipolitisches, wohl aber ein gesellschaftspolitisches Projekt zu formulieren. Hören wir endlich auf, uns einzureden, dass es toll ist, die anderen vor uns herzutreiben, die sich ohnehin nicht treiben lassen. Es geht darum, Akteure für das mobilisierende Projekt der sozialen Modernisierung zu gewinnen. Dazu gehören natürlich Gewerkschaften, Sozialverbände, die große Community der Flüchtlingshelfer_innen, antirassistische Initiativen und natürlich Mitglieder anderer Parteien, vor allem von SPD, Grünen und Piraten. Dazu gehören aber auch die Protaginist_innen solidarisch fortschrittlicher Projekte, die einen ganz praktischen Nichtkapitalismus probieren – etwa im Bereich IT- und netzbasierter Ökonomie und Kommunikation.«
An den Konkretisierungen des erforderlichen politischen Angebots muss dringlich gearbeitet werden.
Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Björn Radke ist Mitglied der Redaktion von »Sozialismus«. Ihr Text erschien zuerst auf der Website der Zeitschrift.
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