Volles Boot, leere Herzen
»Wir sind keine Barbaren« von Philipp Löhle am Stadttheater Bremerhaven
Was ihr wollt! Sagte Shakespeare und erhob Schiffsuntergang, Rettung und alles Weitere zu einer lebenstollen Komödie. Was wollt ihr? fragt Europa täglich und zerrt Landung und alles Weitere hinab aufs Niveau einer verflucht beständigen Krise. Der Schweizer Philipp Löhle hat dem Flüchtlingsthema eine wirkungsvolle Groteske geschrieben: »Wir sind keine Barbaren«. Tim Egloff inszenierte am Stadttheater Bremerhaven (Ausstattung: Thea Hoffmann-Axthelm).
Zwei Mittelklassepaare, Barbara und Marion, Linda und Paul. Wohnnachbarn, im Dauertalk über sauberes Wasser, veganes Kochen und all die Lustpflichten zwischen Prosecco und Fitness. Mario entwickelt einen Motorgeräuschsound für superleise Autos - damit sie auf der Straße von Blinden bemerkt werden -, Menschen mitten im modernen Anstrengungsmüll, sich mit Yoga eine dritte, vierte Jugend anzulügen oder aus Bio eine Biografie zu machen. Bis die Angst vorm schwarzen Mann den schwelenden, im Schwatz zunächst nur plätschernden Beziehungsstress hochgehen lässt: Denn Marios Frau Barbara hat einen Fremden hereingelassen, sie nennt ihn Bobo, er ist nun Mitbewohner, und ohne je als Person aufzutauchen, wird er Zentralgestalt eines derber, aggressiver werdenden Streits. Um die vermeintliche Sexualkraft von Afrikanern. Die »natürliche« Furcht vorm Fremden. Das Recht auf ungestörtes Wohnrecht. Diese grassierende »Gutmenschenscheiße«. Volles Boot und leere Herzen. Leere Herzen? Nein: »Wir sind gern betroffen.«
Geilt sich Paul an europäischer Leistungskraft auf, so berauscht sich Barbara an dieser Vollnarkose, in die jeder Linke fällt, wenn er nur irgendwie antikolonial, internationalistisch und multikulturell sein darf: »Wenn ich Bobo sehe, kann ich das Unglück fast berühren.« Sie berührt es wirklich - Mario überrascht sie beim »Mitleidsfick«. Und kurz darauf ist Barbara tot. Philipp Löhle attackiert Gemütsgrobheiten, plötzlich aber reizt er mit einer Verunsicherung, die das positive Klischee einer zweifelsfreien Unschuldsvermutung für Flüchtlinge frech ankratzt: Bobo ein Mörder? Das ist provokativer Verweis auf jene linke Anteilnahme, die jeden Flüchtling aus einem Schutzbedürfnis heraus idealisiert - und komplementär dazu möchte man Deutschland, den Staat unbedingt verletzen. Das ist ein Geist, der zum Beispiel jeden Angriff auf Fremde oder deren Unterkünfte anklagt - jedoch kaum Ehrgeiz für die gegengewichtige Wahrheit aufbringt, nämlich jene vieltausendfach größere deutsche Bürgertat: der Solidarität, des Mitgefühls. Man kann sich eben zulassen, wie man eine Tür zulässt, und bleibt damit so sauber wie allein; oder man kann zulassen, sich selber den Blick in eine vielfarbige Wirklichkeit nicht zu verbieten.
Über der Szene hängt eine große Spiegelfläche, als TV-Bildschirm im Kinoformat, ein Geburtstagsgeschenk Marios an Barbara - unter ihm wird sie später begraben, die rote Paketschleife nun das Blutspurzeichen. Die Inszenierung hat bitteren Witz, Tempo, sie trampelt etwas zu lärmend auf einem Holzpodest herum und hat große Lust auf Lautstärke - eine wohl etwas zu direkte Übertragung der ansteigenden Erregungsgrade in frontale, dröhnende Stimmen. Aber der Boulevardton klackt auch listig leicht; schnell stehst du im Vorhof einer Konversationshölle. »Fragen wir uns doch mal: Warum haben die Europäer das Pferd gezähmt und nicht die Afrikaner?«
Andreas Möckel, Steffen Riekers, Jennifer Sabel und Sascha Maria Icks als Viererbande. Aufgedreht oberflächlich, fläzig unverbindlich, gehetzt geltungssüchtig. Und dann die Schübe aus Hass und beherrschungs᠆loser Selbstentlarvung. Schöpft dieser hysterisierte Paarbetrieb aus den Quellen einer geschickt verzahnten und raffiniert in Spannung gehaltenen Plunderplauderei, aus der immer dickere Giftblasen steigen, so liefert ein dazwischengeschalteter Heimatchor gleichsam die literarisch präzise, gezirkelte Prise Jelinek. »Die Abgründe in unserm Innern sind tief / Unheimlich tief / Unheimlich / Konservativ«. Die da auftreten, biederlarvenlos oder in angstverzerrten Gesichtsmasken, sie fauchen, bellen, bieten akkuraten Rassismus. Perfekt synchron. Ein Chor wie ein Korps. Stimmen aus dem dunklen Demok᠆rattenloch, also nicht helle, eher das Gegenteil, aber doch hellwach, eine Hellwachmannschaft des Völkischen.
Löhles Stück ist bislang eine kleine Erfolgsgeschichte. Aber just der Furor macht auch ein Problem kenntlich: Die Gegenwartsdramatik hierzulande ruft nicht, sie schreit nicht, sie sprachröhrt. Das Schauspiel leidet an Sprachröhrenkrebs. Wer eine Bühne betritt, lebt nicht, er kommentiert Leben. Schon schwierig, sich von Stück zu Stück die Namen zu merken. Heute Paul, morgen Konrad, übermorgen nur wieder Er und Sie. Das Theater erschuf einst feurige Charaktere, die mit Dolch in der Magengrube und Limonade im Bauch unsterbliches Leben anmeldeten. Helden, Tragöden - heute? Karl Moor tingelt höchstens noch als Tester von Bergschuhen durch die Mittelgebirge. Marquis Posa sitzt sich zu Tode zwischen allen Parteistühlen in einem Provinzparlament, wo Kohlhaas müde gähnend den Petitionsausschuss leitet. Iphigenie googelt, wo Köln liegt, und kann nur lachen, was deutsche Frauen so für Probleme haben sollen. Und Woyzeck geistert als Störung durch unsere ordentlichen Träume, um nach der Adresse von Klaus Kinski zu fragen.
Aber so ist die Lage. Nirgends eine politische Idee; nirgends ein Vorschlag, etwa rechten Protest in eine andere Richtung zu lenken; nirgends das, was man in der Steinzeit des 20. Jahrhunderts Klasse und Bewusstsein nannte; der Geschichte ging - aus gutem bösen Grunde - das sogenannte revolutionäre Subjekt beizeiten verloren, und das geschichtliche Subjekt hat nie wieder Fuß fassen wollen auf deutschem Boden; auch eine Art Flüchtling, bis heute - und noch bis in wie viele kommende Zeiten hinein? Wo wäre das Ich, das Grenzen anders sprengt, als es ein Desperado vermag? Nach Nebenwirkungen fragen Sie an der Abendkasse. Die Frage nach Risiken hat sich erledigt. So erledigt sind wir?
Nächste Vorstellungen: 22., 30. Januar, 12.Februar
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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