Armut, Aufschwung, Autokratie
Algerien und Marokko sind Ziel- und Ausgangsländer für Flüchtlinge
Der marokkanische Journalist Hicham Mansouri schrieb an einem Stück über die staatliche Überwachung des Internets, als Polizisten zwei Türen aufbrachen und seine Wohnung stürmten. »Sie haben mich verhört und unter anderem nach Kontakten zu islamistischen Gruppen befragt«, sagte Mansouri am Sonntag nach seiner Freilassung. Zehn Monate saß er in Haft. So wie ihm ergeht es derzeit vielen Kritikern, warnt Jeremie Smith vom Kairo-Institut für Menschenrechtsstudien in Genf. »Seit anderthalb Jahren sehen wir in Marokko eine wachsende Unterdrückung jeglicher Kritik.«
Marokko gilt als Insel der Stabilität im unruhigen Maghreb. Während andere Länder Nordafrikas seit Ende 2010 von Umwälzungen erschüttert werden, währten die Proteste in Marokko nur kurz. König Mohammed VI. kündigte bald nach den ersten Demonstrationen Reformen und eine neue Verfassung an, die im Juli 2011 bei einer Volksabstimmung nahezu einstimmig angenommen wurde. Ein halbes Jahr später errangen bei Wahlen gemäßigte Islamisten die Mehrheit. Die Zeichen standen auf Reform, sagt Smith. »Deshalb ist es umso beschämender, dass der Staat jetzt wieder zu repressiven Mitteln greift.«
Wer die Regierung und allen voran König Mohammed VI. kritisiert, muss mit Konsequenzen rechnen. Der marokkanische Geschichtsprofessor Maati Monjib etwa wird diese Woche gemeinsam mit dem gerade freigelassenen Mansouri vor Gericht stehen. Der Vorwurf: Gefährdung der nationalen Sicherheit. Monjibs Vergehen: Er gibt ausländischen Medien kritische Interviews und engagiert sich in der Menschenrechtsgruppe »Freiheit jetzt« für Reformen. Eine andere Gruppe, die gegen die massenhafte Kontrolle von E-Mails in Marokko protestierte, wurde vom Staat wegen Diffamierung verklagt.
Innenminister Mohammed Hassan warnte Menschenrechtler offen im Staatsfernsehen davor, Berichte zu veröffentlichen, die den Sicherheitsapparat unterhöhlen und die Stabilität des Landes gefährden könnten. »Marokkaner fliehen sicher nicht vor einem Krieg, aber politisch Verfolgte gibt es sehr wohl«, urteilt Smith. Europa müsse ihnen Asyl gewähren und zugleich den marokkanischen Staat zur Achtung der Menschenrechte drängen, fordert er.
Repressiv ist der Staat auch in Algerien -- seit Jahrzehnten. »Der Staat bringt kritische Stimmen zum Schweigen, und der Westen sieht zu, weil Algerien Öl liefert und für Stabilität in der Region sorgt«, urteilt Menschenrechtler Smith. Die Tatsache, dass derzeit innerhalb der von Algeriern ehrfürchtig »le pouvoir«, die Macht, genannten Führungselite ein Kampf zu herrschen scheint, habe daran nichts geändert. Tatsächlich ist unklar, ob der 78-jährige Präsident Abdelaziz Bouteflika noch regiert. Seit über einem Jahr wurde er nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen.
Abderrazak Makri, Anführer einer islamistischen Oppositionspartei, warnt bereit vor dem Zusammenbruch des Staats. »Außer politischen gibt es auch ökonomische Probleme«, warnte er in der »New York Times«. Hintergrund ist der dramatisch gefallene Ölpreis, der den von Öleinnahmen abhängigen Staatsetat belastet. In Algerien sind zudem, ebenso wie in Marokko, die meisten Menschen jung - und arbeitslos. Auch deshalb fliehen viele von ihnen nach Europa, zumal diese ökonomisch motivierte Flucht Tradition hat.
Nach offiziellen Zahlen der marokkanischen Regierung lebt mehr als jeder zehnte Marokkaner im Ausland - 84 Prozent davon in Europa, vor allem in Frankreich. Dort verfügen sie - wie Algerier auch - über persönliche Kontakte, um irgendwie unterkommen und arbeiten zu können. Die Zahl der Auslandsmarokkaner hat sich seit 1998 mehr als verdoppelt. Das Geld, das Gastarbeiter nach Hause überweisen, ist eine der wichtigsten Einnahmequellen des Landes: 2014 waren es der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge mehr als sechs Milliarden Euro - im Schnitt 180 Euro für jeden daheim gebliebenen Marokkaner.
Das Geld wird gebraucht, denn obwohl Marokkos Wirtschaft einen leichten Aufschwung verzeichnet, zählt das Land immer noch zu den ärmsten 60 Ländern der Welt. Im Vergleich zum restlichen Afrika geht es Marokko und den anderen Maghrebstaaten allerdings gut. Auch deshalb kommen nach IOM-Angaben bis zu 120 000 Afrikaner jährlich in die Region, um zu bleiben. epd/nd
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