»Ein bisschen wie Barrenturnen«

Warum starb Otto Lilienthal? Forscher wollen seinen Flugapparat im Windkanal testen und lassen das Gerät derzeit in Anklam nachbauen

  • Martina Rathke, Anklam
  • Lesedauer: 4 Min.
125 Jahre nach dem Erstflug von Otto Lilienthal und 120 Jahre nach seinem Absturz testen Forscher seinen Flugapparat im Windkanal. Nachgebaut wird dieser in Anklam (Mecklenburg-Vorpommern).

Was 2003 zum 100-jährigen Erstflug der Gebrüder Wright in Amerika veranstaltet wurde, wollen deutsche Forscher und Museumswissenschaftler in Kürze auch zum 125-jährigen Erstflug von Otto Lilienthal erproben: den aerodynamischen Test eines Flugapparate-Nachbaus im Windkanal. Die Luftfahrtexperten des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Göttingen in Niedersachsen wollen auf diesem Weg erfahren, welches theoretische Wissen über Stabilität und Steuerung Lilienthal hatte. Er startete im Frühjahr 1891 im brandenburgischen Derwitz seinen ersten Flugversuch, arbeitete sich auf Weiten von 250 Meter vor und verunglückte 1896 bei einem Flug in den Rhinower Bergen bei Stölln (Brandenburg) tödlich.

Lilienthal veröffentlichte 1889 sein Buch »Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst«. Doch eine theoretische Abhandlung über die Flugeigenschaften seiner Gleiter blieb er der interessierten Nachwelt schuldig, sagt der Leiter des Instituts für Aerodynamik und Strömungstechnik, Prof. Andreas Dillmann. Nun könnten die Forscher mit dem Windkanal-Experiment die Daten nachliefern.

Das Ganze sei reine wissenschaftliche Neugier, heißt es. Sicher auch ein bisschen Abenteuergeist. Auf jeden Fall ist der Test im Jubiläumsjahr eine Verneigung vor dem Flugpionier, der 1848 in der vorpommerschen Provinzstadt Anklam geboren wurde und mit seinem Normalsegelapparat laut Dillmann das erste Serienflugzeug der Welt konstruierte. Mindestens zwölf Exemplare des motorlosen Gleitfliegers wurden nach Angaben des Direktors des Otto-Lilienthal-Museums in Anklam, Bernd Lukasch, gebaut. Neun Fluggeräte wurden verkauft. Vier Stück dieses Lilienthalschen Flugapparates sind heute noch - in unterschiedlicher Qualität - in London, Moskau, München und Washington erhalten.

Nach Originalplänen bauen derzeit Mitarbeiter des Anklamer Museums den Flugapparat nach. Eine Bauzeichnung aus dem Lilienthalschen Konvolut von 1895 bildet die Vorlage. »Entscheidend ist, dass der Nachbau die identischen aerodynamischen Eigenschaften besitzt wie Lilienthals Fluggerät«, sagt der Physiker Lukasch. Neben Weide, die Lilienthal verwendete, kommt Abacchi-Tropenholz zum Einsatz, das ebenso flexibel und leicht wie Weide sei.

Mehr noch als das Holz sei die Qualität des Stoffes - seine Luftdurchlässigkeit und Flächendichte - maßgebend für die Originaltreue. Der Stoff - ein Shirting - , mit dem der Gleiter mit seiner Spannweite von 6,70 Meter bespannt wird, wird derzeit extra angefertigt. Dazu wurde eine Stoffprobe des Originalgleiters im Curt-Engelhorn-Zentrum für Archäometrie in Mannheim untersucht.

Der Wind war jahrelang Lilienthals Begleiter. Ihm vertraute er sein Leben an, bis er am 9. August 1896 zum tödlichen Verhängnis wurde. Eine Sonnenbö, ein plötzlicher Aufwind, so berichteten Augenzeugen, habe den Gleiter bei seinem Flug ergriffen. Der Schwerverletzte wurde mit dem Zug nach Berlin gefahren. Dort, in der Bergmannschen Klinik, erlag Lilienthal einen Tag später seinen Verletzungen. »Wirbelbruch«, dokumentiert das Buch im Leichenschauhaus des Polizeipräsidiums Berlin. »Das Fliegen mit dem Lilienthal-Gleiter war ein bisschen wie Barrenturnen«, erklärt Dillmann. Man müsse dafür sehr sportlich sein, sich mit den Ellbogen an den Holmen aufstützen, um durch Vor- und Rückschwingen der Beine die Fluggeschwindigkeit zu steuern. Lilienthal lenkte das Fluggerät durch Gewichtsverlagerung. Sein Körper war quasi der Steuerknüppel.

Der Flugexperte hat deshalb auch Zweifel, ob sich der Absturz tatsächlich so ereignete wie überliefert. Die Aussage »Sonnenbö« sei nie quantitativ untermauert worden. »Mit den Messdaten, die wir gewinnen, können wir beurteilen, ob Lilienthal eine solche Sonnenbö - also einen Aufwind von 4 bis 5 Meter pro Sekunde - aussteuern konnte.« Denkbar sei vielleicht auch, dass das Flugzeug instabil gewesen sei und Lilienthal einfach die Kontrolle verloren habe.

Ende April, Anfang Mai sollen die Messungen im Windkanal im niederländischen Marknesse starten. Bei der 6-Komponenten-Messung werden alle auf den Flugkörper einwirkenden Kräfte und Drehmomente exakt erfasst. »Mit diesen Daten sind die Bewegungen genau beschrieben«, sagt der Strömungstechniker Dillmann. Sie lassen eine Analyse der Flugeigenschaften zu.

Lilienthal war der Impulsgeber für die Entwicklung der modernen Luftfahrt, indem er dafür die physikalischen Grundlagen legte. Denn Lilienthal sei der erste gewesen, der den Auftrieb verstanden und gewusst habe, wie ein Flügel gebaut sein muss, damit er Auftrieb erzeugt, sagt Dillmann. »Die Gebrüder Wright haben auf die Ergebnisse von Lilienthal aufgesetzt.« Ihnen gebühre der Verdienst für die technologische Leistung, Lilienthal für die wissenschaftliche. dpa/nd

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