Der Fracking-Schock und seine Folgen
Die erfolgreiche Förderung von Energie durch Fracking hat die Gewichte der weltweiten Energiewirtschaft grundlegend verschoben
Das kurdische Autonomiegebiet in Nordirak erlebt aktuell, wie eng Energiepolitik mit Außen- und Sicherheitspolitik verzahnt sein kann. Von den Ölfeldern Nordiraks transportiert eine Pipeline 600 000 Barrel Rohöl am Tag in die Türkei. Auf der anderen Seite der Grenze führt die Türkei aktuell Operationen zur Aufstandsbekämpfung durch. Seit Mitte Februar ist die wichtigste Verbindung Kurdistans zur Außenwelt gekappt. Für die Regierung in Erbil stellt das eine Katastrophe dar. Ohnehin senkte der gefallene Ölpreis die monatlichen Einnahmen der Kurdenregion im Jahr 2015 auf 630 Millionen US-Dollar. Die Staatsausgaben, konzipiert im Jahrzehnt hoher Preise, wurden auf 850 Millionen ausgelegt. Schon seit Oktober erhalten die Beamten in Kurdistan keine Löhne mehr. Selbst der Schulunterricht fällt aus.
Schlangestehen beim IWF
Malte Daniljuk ist Fellow für Energiepolitik und Geostrategie am Institut für Gesellschafts- analyse der Rosa-Luxemburg- Stiftung. Er forscht zu aktuellen Konjunkturen der Energiepolitik im Rahmen des Projektes »Geo- politische und geoökonomische Veränderungen im Umfeld der EU«.
Vor einer ähnlichen Situation stehen seit 2015 auch die meisten anderen Exportstaaten. Der niedrige Weltmarktpreis trifft die Ölförderer hart und unvorbereitet. Angola, Nigeria und Aserbaidschan bitten bei IWF und Weltbank um Kredite. IWF-Chefin Christine Lagarde versicherte, sie würde auch Ölstaaten Kredite einräumen, allerdings müssten diese offen für die »notwendigen Reformen« sein. Das bedeutet aus IWF-Perspektive: Subventionen abbauen und westliche Beteiligungen zulassen. Venezuela, seit Oktober praktisch pleite, und Russland, ebenfalls in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, versucht die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) zu überreden, die Förderung zumindest einzufrieren, bisher ohne sichtbaren Erfolg.
In den vergangenen 20 Monaten zeichnete sich ab, welch massive Auswirkungen auf die politische Stabilität ganzer Regionen damit verbunden sind. Die Erdölökonomie steht vor einer historischen Zäsur. Die in den 1970er Jahren gegründeten staatlichen Ölunternehmen kontrollierten seitdem das Fördergeschäft, während Transport, Verarbeitung und Verkauf in den Händen amerikanischer und europäischer Ölmultis lagen. Bereits in den vergangenen zehn Jahren ging der Trend dahin, dass die National Oil Companies gezwungen waren, sich weiter für westliche Unternehmen und Kapital zu öffnen, weil der technische Aufwand der Förderung immer weiter stieg. Das technische Know-How, die neuen Fördertechniken, liegen vollständig in den Händen von Firmen mit Sitz in den USA und Kanada.
Mit den niedrigen Preisen für Rohöl findet nun jedoch zusätzlich eine massive Vermögensverteilung hin zu den Nettoimporteuren statt, zu den industrialisierten Ländern. Die wirtschaftliche Krise der Exportstaaten stellt einen ungeheuren Machtzuwachs für »den Westen« dar. Der IWF sprach von einem »Konjunkturprogramm für die entwickelten Volkswirtschaften, von dem besonders die USA profitieren«. Zudem entbindet die aktuelle Ölschwemme die Industriestaaten und ihre International Oil Companies von energiepolitischem Handlungsdruck bei kleineren und mittleren Förderländern wie Syrien, Südsudan oder Libyen. Aktuell braucht »der Markt« die Ressourcen nicht, die dort aufgrund der kriegerischen Zerstörung im Boden bleiben.
Staatliche Wirtschaftsplanung á la USA
Bis Juni 2014 galt es für die Öffentlichkeit als sicher, dass der Rohölpreis nie wieder unter 100 Dollar fallen wird. Selbst die die OPEC und die Internationale Energieagentur in Paris gingen fest davon aus, dass alles bleiben wird, wie es die vergangenen 15 Jahre war: Nachfrage steigt, Förderung steigt, Preise steigen. Im Hintergrund hatte sich jedoch die energiepolitische Realität radikal verändert. Im Jahr 2008 lag die inländischen Ölförderung in den USA mit 5,8 Millionen Barrel auf dem tiefsten Punkt. Sechs Jahre später war diese Zahl auf 9,8 Millionen Fässer am Tag angeschwollen. Die USA wurden in diesem Jahr der größte Erdölförderer der Welt. Obwohl die im Land aktiven Unternehmen ihr Öl aus rechtlichen Gründen bisher nicht auf den Weltmarkt exportieren durften, haben sie doch als ehemals größter Abnehmer einen indirekten Einfluss: In diesem Zeitraum sparten die USA 4,4 Millionen Barrel am Tag an Importen, die stattdessen bei anderen Abnehmern weltweit entladen wurden.
Inzwischen sind sich die Energieanalysten einig, dass die radikal angestiegene Ölmenge in Nordamerika den Erdölpreis zum Einsturz brachte. Wie schon im Jahr 1986, als Saudi-Arabien plötzlich seine Förderung ausweitete, ereignete sich das, was Öl-Analysten einen Supply-Shock nennen, ein Preissturz aufgrund des ausgeweiteten Angebots. Dass dies in den USA möglich wurde, liegt daran, dass die dort aktiven Energieunternehmen in den vergangenen Jahrzehnten neue Technologien entwickelten, um bisher nicht förderbare Ressourcen auszubeuten. Im Mittelpunkt stehen dabei das Horizontal Drilling und Hydraulic Fracturing, kurz Fracking. Das Land hielt bereits seit 100 Jahren Energiereserven unter staatlicher Kontrolle. Ein Großteil davon, die so genannten Schieferöl- und -gasvorkommen, galten bis zum Anfang der 2000er Jahre als nicht wirtschaftlich förderbar. Mit dem radikal steigenden Preis für Rohöl veränderte sich diese Situation jedoch grundlegend. Die Finanzblase ermöglichte das Entstehen einer neuen Industrie.
Im Jahr 2004 legte das Energieministerium verschiedene Studien vor, die zur Grundlage für eine neue Energiepolitik in der besten Tradition staatlicher Wirtschaftsplanung wurden. »Mit einer zwischen Industrie und Regierung koordinierten Kampagne ist es möglich, dass bis zum Jahr 2011 eine Ölschieferindustrie entsteht, die als aggressives Ziel eine Tagesproduktion von zwei Millionen Barrel hat und letztlich, im Jahr 2020, fähig sein könnte, zehn Millionen Barrel am Tag zu fördern«, so die Vorgabe des Verantwortlichen für die staatlichen Ölreserven, David Johnson. Seine Arbeitsgruppe zielte von Anfang an darauf ab, »den weltweiten Preis für Rohöl drücken zu können«. Außerdem erwarteten die Wirtschaftsplaner positive Effekte auf das Bruttoinlandsprodukt und die notorisch defizitäre Handelsbilanz. Und die Autoren dachten von Anfang daran, mit dieser Initiative auch einen entsprechenden globalen Technologievorsprung für die US-Wirtschaft zu erreichen: »Rund 26 andere Länder weisen kommerziell nutzbare Mengen von Ölschiefer auf. Die neue Technologie kann die Grundlage für neue Geschäftsmöglichkeiten sein.«
Da fast 80 Prozent der gesamten Ölschieferressourcen von Bundes- und Landesbehörden verwaltet werden, ging es darum, den Investoren alle nur denkbaren Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Im August 2005 unterzeichnete Präsident George W. Bush ein neues Energiegesetz, das sämtliche Umwelt- und Verwaltungsauflagen schleifte. Die Öl- und Gasindustrie wurde von Wasserschutzgesetzen, Schadstoffrichtlinien und Genehmigungsverfahren befreit. Außerdem sollten Energieunternehmen mit einem Gesetz für Krisenzeiten gegen wirtschaftliche Ausfälle abgesichert werden. Sämtliche Bereiche von Big Energy wurden zudem mit erheblichen Steuererleichterungen bedacht, insgesamt 15,5 Milliarden Dollar pro Jahr.
Tatsächlich erreichten die Energiefirmen damit bis 2011 die anvisierte zusätzliche Ölförderung von zwei Millionen Barrel Tagesproduktion zusätzlich. Der Fracking-Schock war also weder ein Wunder noch eine technische Revolution, sondern vor allem wirtschaftspolitische Planung. Von diesem Projekt profitierte auch der neue Präsident. Barack Obama kurbelte mit seinem energiepolitischen Konzept das Fracking sogar weiter an und verankerte es im Zentrum der amerikanischen Politik, der Nationalen Sicherheitsstrategie. Sämtliche Behörden und Institutionen der USA sind verpflichtet, die dort festgelegten Ziele mit allen Mitteln zu unterstützen.
Energiesicherheit und außenpolitische Handlungsfreiheit
Für Barack Obama kam dieses Geschenk, das ihm sein Vorgänger hinterlassen hatte, gerade recht. Er war mit dem Ziel angetreten, das amerikanische Militär nach Hause zu holen. Gefragt war eine außenpolitische Strategie, die auf wirtschaftliche und technologische Überlegenheit setzen konnte. Eine der wichtigsten Strateginnen der amerikanischen Energiepolitik, die Harvard-Professorin Meghan O’Sullivan, die im übrigen als einzige wenige Monate zuvor den Preissturz öffentlich voraussagte, definierte Energiesicherheit als Zugang zu erschwinglicher Energie, »ohne dafür politische, sicherheitspolitische, militärische, diplomatische oder militärische Kompromisse eingehen zu müssen«. Sie argumentierte, dass die gestiegene Öl- und Gasförderung die USA in die Lage versetzt, ihre Militärpräsenz im Mittleren Osten zurückzufahren und ihr grundsätzlich »größere außenpolitische Freiheiten« ermöglicht. Dabei könne Energie sowohl das angestrebte Ziel als auch ein Instrument sein wie auch die Ressourcen stellen, welche für eine große außenpolitische Strategie notwendig sind.
Wie so etwas konkret aussieht, demonstrierte die amerikanische Außenpolitik zunächst im Ukraine-Konflikt und gegenwärtig bei den Verhandlungenüber ein transatlantisches Freihandelsabkommen mit Europa (TTIP). Das übergeordnete Ziel der US-Außenpolitik hinsichtlich der Ukraine bestand darin, dass Land aus dem Einflussbereich der Russischen Föderation zu lösen. Gleichzeit war die Energiepolitik darauf ausgerichtet, das weltweite Energieangebot zu erhöhen. Im Jahr 2013 schlossen die größten International Oil Companies, Exxon, Shell und Chevron, mit der Regierung Janukowitsch Verträge über die Förderung von Erdgas in der Ukraine, die es dem Land ermöglicht hätten, die gesamten für den Inlandsverbrauch benötigten 50 Milliarden Kubikmeter Erdgas in der Ukraine zu fördern. Die angekündigte Investitionssumme der Multis betrug 32 Milliarden Dollar. Energie wurde hier als Ziel, Mittel und Ressource eingesetzt. Allein der Umstand, dass Janukowitsch im letzten Augenblick das Assoziierungsabkommen mit der EU suspendierte und parallel Verhandlungen über Kredite und zusätzliche Energielieferungen in Moskau aufnahm, führte das Projekt auf unvorhergesehene Bahnen, die schließlich zur Abtrennung der an Erdgas reichen Regionen, der Krim und des Donezk-Beckens, von der Ukraine führten.
In größerem Maßstab wiederholt sich dieses Spiel gegenwärtig mit der Europäischen Union. Spätestens mit der Ukraine-Krise im März 2014 begann im gemeinsamen Energie-Rat von EU und USA die Planungen für Erdgas-Lieferungen der USA nach Europa im großen Stil. Das Ziel sollen eine größere Energieunabhängigkeit von Russland und niedrigere Gaspreise für Europa sein. Das Mittel ist das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP, das es rechtlich ermöglicht, Erdöl und Erdgas aus den USA zu importieren. Die Ressourcen stellen dabei die Energieunternehmen und die Reedereien, die gegenwärtig ihre gesamten Infrastrukturen auf Importe von nordamerikanischem Fracking-Öl und Flüssiggas umstellen. Dabei sollen ihnen allerdings, so der Vorschlag der EU-Kommission vom Februar 2016, die europäischen Steuerzahler mit fünf Milliarden Euro unter die Arme greifen. Für die International Oil Companies besteht das Ziel jedoch klar darin, russische Anbieter von größten Energiemarkt der Welt zu verdrängen. Die US-Außenpolitik will mit TTIP zudem den europäischen Markt insgesamt enger an Nordamerika binden.
Die neue Energieordnung
Der zum Absturz gebrachte Preis für Erdöl steht im Mittelpunkt großer geopolitischer Umbrüche. Erstmals seit 40 Jahren gelingt den International Oil Companies auf breiter Front der Einstieg in das Kerngeschäft der Nationalen Fördergesellschaften. In Mexiko, das sein Erdölunternehmen als erstes in der westlichen Welt im Jahr 1938 verstaatlichte, steht die Privatisierung von Pemex an. Algerien überlegt erstmals seit 2002, die 1970 verstaatlichte Sonatrach für Beteiligungen zu öffnen, und selbst Saudi-Aramco, eines der wertvollsten staatlichen Unternehmen, steht kurz davor, sich in ein börsennotiertes Unternehmen umzubauen. Sie alle benötigen das Kapital und das technische Know-How für die neuen Fördertechnologien.
Darüber hinaus steigen Exxon, Shell, Chevron und die BP mithilfe der Fracking-Technologie in völlig neue Regionen ein. Gerade erst unterzeichnete Südafrika einen großen Vertrag über die Fracking-Förderung im Herzen den Landes, dem Karoo-Becken. Gleichzeitig klagen die International Oil Companies auf hohem Niveau über die gefallenen Preise für Erdöl und Erdgas. Inzwischen machen sie »nur« noch Gewinne im einstelligen Milliardenbereich. Das hindert sie nicht daran, Dividenden auszuschütten und kostspielige Übernahmen zu finanzieren. Gerade erst erwarb Shell für 53 Milliarden US-Dollar einen der weltgrößten Gasförderer, die BG-Group.
Den größten Vorteil haben bisher jedoch die USA und die dort aktiven Unternehmen erreicht. Zwar stagniert die inländische Förderung und einer kleinerer Teil der Fracking-Unternehmen wurde geschluckt. Die Infrastrukturen und das Know-How sind jedoch vorhanden. Gegenüber April 2015 verloren die USA bis heute gerade mal 300 000 Barrel Tagesproduktion. Das Geheimnis liegt in der extrem zunehmenden Effektivität der Fracking-Förderung. Während Anfang des Jahres 2010 aus einem Bohrloch im Schnitt gerade 90 Barrel am Tag kamen, sind es jetzt 436 Fässer am Tag.
Ungefähr 4000 Bohrlöcher sind bereits gebohrt und warten nur auf bessere Preise, um wieder in Betrieb genommen zu werden. Diese so genannten Fracklogs funktionieren in Zukunft wie ein Deckel bei jeder Ölpreis-Rallye. Sobald der Weltmarktpreis ansteigt, fahren die US-Fracker ihre Produktion hoch und drücken den Preis erneut. Die USA sind nach Saudi-Arabien nun der zweite Swing-Producer. Gemeinsam werden sie den Ölpreis für die nächste Zukunft kontrollieren. Das ist keine gute Nachricht für die Politik in Russland, Venezuela oder Brasilien. Aber auch die Staaten der europäischen Union müssen sich entscheiden, ob sie zukünftig von neuen Versorgern abhängig sein wollen, deren Regierung Sanktionen als selbstverständlichstes Mittel der Außenpolitik benutzt. Und ob sie Öl und Gas importieren wollen, das mit der umwelt- und klimaschädlichsten aller Fördermethoden produziert wird. In Griechenland, Italien und Deutschland setzte in den letzten Monaten bereits ein Umdenken ein: Mit der Poseidon-Pipeline nach Südeuropa und Nordstream 2 setzen sie allen Sanktionen zum Trotz auch auf eine kontinentale Integration mit Russland.
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