Entsetzen, Abscheu, Unverständnis

Das Jüdische Museum und seine umfassende Retrospektive des NO!art-Künstlers Boris Lurie

  • Manuela Lintl
  • Lesedauer: 5 Min.
Holocaust-Leichen und Pin-Up-Girls – an solchen Collagen mussten sich die Geister scheiden. Und sie taten es. Boris Luries Kunst provoziert bis heute. Das Jüdische Museum Berlin widmet ihm eine Ausstellung.

1963 klebte Boris Lurie auf ein vergilbtes Zeitungsfoto von 1945, das in mehrere Schichten übereinandergelegte, nackte und ausgemergelte Leichen auf der offenen Ladefläche eines Lastautos zeigt, das Foto eines Pin-up-Girls in Rückenansicht. In erotisch aufgeladener Pose streift sich die junge Frau lasziv das Höschen vom Hintern. Die Reaktion auf diese »Railroad to America« betitelte Collage ist bis heute ungläubiges Entsetzen, Abscheu, Unverständnis. Wer sich dann nicht abwendet und aufgibt, sondern weiter schaut und nachdenkt, reagiert in beabsichtigter Weise. Denn die zynisch gestaltete Collage ist mehr als bloß ein obszöner Tabubruch. Die Drastik der Bildsprache ist vielmehr äußerstes Mittel zum Zweck und nur die Autorenschaft von Lurie als Überlebender des Holocaust legitimiert eine so unerträglich derbe Kombination von Pin-up-Girl und authentischem Pressefoto aus einem Konzentrationslager.

Fotografische Belege für den Holocaust, wie sie beispielsweise Lee Miller oder Magaret Bourke-White aufgenommen haben, wurden bereits im Frühjahr 1945 in amerikanischen Magazinen wie »Time Life« oder »Vogue« veröffentlicht. Reportagen über die Gräuel in den deutschen Arbeits- und Vernichtungslagern waren dabei flankiert von Klatsch, Mode oder Werbung. Die Obszönität bestand also im Nebeneinander von Shoah, Unterhaltung und Konsum in der Berichterstattung US-amerikanischer Medien. Lurie demaskierte ein oberflächliches, voyeuristisches Interesse an der Aufarbeitung der Erlebnisse von Holocaust-Überlebenden. Für diese Kunst prägte er den provokanten Begriff der »Jew Art«, deren Ziel nicht Sinnstiftung, sondern Konfrontation sei. »Jew Art gründet«, so schreibt Volkhard Knigge in seinem Katalogbeitrag zur Retrospektive von Boris Lurie im Jüdischen Museum, in der Erfahrung einer absoluten »Aufkündigung der Grundsolidarität des Menschen mit dem Menschen«. Der Direktor der Gedenkstätte Buchenwald fügt hinzu, dass Jew Art also nicht »interpretiert«, sondern »sie will, muss ertragen werden«. Auch deshalb wählte man für die Ausstellung den passenden Titel: »Keine Kompromisse!«

Lurie kam 1924 als jüngstes von drei Kindern jüdischer Eltern im damaligen Leningrad zur Welt und wuchs in Riga auf. Seine Großmutter, die Mutter, eine Schwester und Luries erste Jugendliebe wurden 1941 bei Massenerschießungen durch die SS umgebracht. Er selbst wurde zusammen mit seinem Vater 1945 aus dem Buchenwald-Außenlager bei Magdeburg befreit. Ein Jahr später wanderten beide in die USA aus. Obwohl Lurie in New York nicht wirklich heimisch wurde, blieb er zeitlebens dort (bis auf ein kurzes Intermezzo 1954/55 in Paris) und verstarb 2008 in seiner Wahlheimatstadt nach längerer Krankheit. Außer seiner Kunst hinterließ Lurie, der in den 1960er Jahren begonnen hatte, an der Börse zu spekulieren und Immobilien zu erwerben, ein Millionenerbe in dreistelliger Höhe. Dies erstaunt umso mehr, zumal Lurie selbst niemals Wohlstand zur Schau gestellt hat, sondern wie ein Bohemien lebte. Sein nahezu kompletter künstlerischer Nachlass - denn Lurie musste oder wollte keines seiner ca. 3000 Werke je verkaufen - wird seit 2009 von der »Boris Lurie Art Foundation« verwaltet, die auch die Ausstellung im Jüdischen Museum mit organisiert hat. Inwieweit die Stiftung nicht nur seine fragilen Werke zu erhalten und den Wert des Nachlasses posthum zu steigern versucht, sondern das Vermögen auch für die Förderung heutiger kritischer Künstler einsetzt, wie Lurie es gewollt hat, bleibt abzuwarten.

Die 205 Werke der Retrospektive sind in 13 Kapiteln angeordnet. »Familie« etwa zeigt frühe Ölbilder und private Fotos zusammen mit den intimen »War Series«, Luries Erinnerungsskizzen an die Lagerzeit. Als Autodidakt hatte Boris Lurie seine produktivste Schaffenszeit zwischen 1950 und 1970. Frühe Ölbilder, die Szenen in Konzentrationslagern wiedergeben, zeigen Einflüsse von El Greco oder Ludwig Meidner. Auch die an Francis Bacon erinnernde Serie fragmentierter Frauenkörper der 1950er Jahre ist noch figurativ. Dann beginnt Lurie collageartig Bilder und Zeitungsausschnitte zu kombinieren und zu übermalen. Die Collagen und Assemblagen bekommen einen zunehmend politischen Duktus. Zusammen mit Sam Goodman übernahm er Ende der 1950er Jahre die March Gallery im damals heruntergekommenen Viertel der Lower East Side. 1959 riefen beide zusammen mit Stanley Fisher die NO!art Bewegung ins Leben. Das NO! bedeutet nicht, wie Gertrud Koch im Katalogbeitrag behauptet, radikale Verneinung oder gar die Negierung der Kunst. Es steht vielmehr für eine engagierte und kritische Protestkunst, die sich gegen Kunstmarkt, Museumsbetrieb, aktuelle Politik und Gesellschaft richtet. Kunstintern wurde der Siegeszug der etablierten, marktkonformen Kunststile wie Abstrakter Expressionismus und Pop Art als unkritisch abgelehnt.

Bereits zu Lebzeiten schieden sich die Geister an Luries Kunst. Das blieb nicht folgenlos, auch für die Rezeption des NO!art-Künstlers. Im Gegensatz zu anderen radikal und politisch arbeitenden Künstlern seiner Zeit, wie etwa Wolf Vostell oder Jean-Jacques Lebel, suchte man Luries Namen bis vor wenigen Jahren in kunstgeschichtlichen Standardlexika noch vergeblich. Er war in diesem Sinne kein verkannter, sondern ein vom Kunstmarkt und Museumsbetrieb, den er ja unverblümt und harsch kritisierte, regelrecht boykottierter Künstler. Gemessen an seinem Lebenswerk liest sich seine Ausstellungsliste bescheiden. In Berlin war er bereits 1995 und 2004 im Haus am Kleistpark zu sehen sowie ebenfalls 1995 in der umfassenden NO!art-Ausstellung im Kreuzberger Kunstverein nGbK.

Dass seit Luries Tod 2008 die »Wiederauferstehung« seiner authentischen und unangepassten Kunst im Kontext der NO!art-Bewegung fast euphorisch gefeiert wird, mag man als Ironie der Geschichte oder verspätete Anerkennung deuten. Es zeigt aber auch die Perversität eines profitorientierten Kunstmarktes, der jede Gewinn versprechende Ware schluckt und zu Geld macht. Die Museen sind nur ein weiteres Rad in diesem Getriebe.

Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie. Jüdisches Museum Berlin (Altbau, 1. OG), Lindenstr. 9-14, Kreuzberg, tägl. 10-20 Uhr, montags 10-22 Uhr, bis 31.7. Das Begleitprogramm findet sich unter www.jmberlin.de.

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