»Nuit debout« beendet den europäischen Winter
Blockupy besucht die wachsende Bewegung in Paris / Großmobilisierung am 15. Mai?
»Demokratie, wo bist du?« steht auf den Schildern, und: »Für einen gemeinsamen Traum!« Die Straßen um den Place de la Republique sind bunt von den widerspenstigen Parolen, die in diesen Tagen niemand mehr ignorieren kann. Inmitten des Trubels – im Laufe des Tages werden sich hier noch über 100.000 Menschen versammeln – treffen wir Nina, Aktivistin von #nuitdebout.
Der Platz ist ein Ort der längst Totgeglaubten, sagt sie. Durch die spontanen Zusammenkünfte nach den Anschlägen bei Charlie Hebdo und den Attentaten in Paris wurde »La République« wieder zum Leben erweckt. Aber erst mit dem Aufschrei gegen die angekündigten Arbeitsmarktreformen kamen die Menschen, um zu bleiben. Die Besetzer*innen haben diesem Platz eine neue Bedeutung gegeben und nutzen ihn, um ihre unterschiedlichen Vorstellungen von einer anderen Gesellschaft und einem anderen Zusammenleben zu diskutieren und zu erproben.
Denn unterschiedlich sind sie tatsächlich, die Menschen, die wir treffen. Da sind diejenigen, die die Arbeitskämpfe von Beginn an mitgetragen haben, und mit der Zeit ihre Diskussionen auf die europäische Politik erweitert haben. Dann die Jugendlichen, die genug haben von dem alten Frankreich, in dem selbst die Sozialisten »schlimmer als die CDU« sind und in dem die Selbstbestimmung mit Füßen getreten wird. Bis zu den Migrant*innen, die der Versammlung klar gemacht haben, dass es hier nicht nur um die Kämpfe der Französ*innen geht, sondern um alle Menschen.
Denn vor #nuitdebout waren es die Geflüchteten, die in Paris seit Wochen Plätze besetzt hielten, Camps errichteten, um sich eine Bleibe zu schaffen, um sichtbar zu werden. Durch die Öffentlichkeit kann die Polizei nicht ohne Weiteres räumen und abschieben, so hofften sie. Vergebens. Längst wurden sie an den Rand der Stadt zurück gedrängt. Auf der Place de la République haben sie nun im Schutz der Vielen ihre Zelte wieder aufgeschlagen.
Und während hier die meisten nach der Demo zum abendlichen Rotwein übergingen, zogen 500 Jugendliche noch einmal los: Zum Place Stalingrad, dorthin, wo jüngst das Camp der Geflüchteten geräumt worden war. Unter Gesängen und Klatschen wurden die Zäune rund um den Platz entfernt und unbrauchbar gemacht. Diejenigen, die das Ereignis auf den nächtlichen Straßen von Paris beobachteten, blieben stehen und klatschten. Die Legitimation der Aktion erschloss sich sofort: Diese Zäune im Stadtbild sind das Symbol für unmenschliche Flüchtlingspolitik und die repressive Sicherheitspolitik während des Ausnahmezustands.
Auf der Place de la République wurden die zurückkehrenden Jugendlichen unter Beifall empfangen. Und zogen bald wieder los zur nächsten Aktion: einem Hausbesuch beim Premierminister Manuel Valls, dem Initiator der Arbeitsreform (#LoiTravail).
An diesem Tag kamen in ganz Frankreich weit über 100.000 Menschen auf die Straßen, und doch weniger als am vergangenen Samstag. Viele wurden von den Gewerkschaften mobilisiert, die auf dem Platz mit ihren Fahnen und Transparenten merkwürdig für sich blieben.
Doch macht die Größe der heutigen Demonstration nicht unbedingt die Stärke von #nuitdebout aus. Vielmehr muss abgewartet werden, wie viele Menschen sich in den kommenden Nächten wieder auf dem Place de la République und auf den anderen Plätzen Europas versammeln. Wo in Arbeitsgruppen über das Jetzt hinaus verhandelt wird, über radikale Demokratie, Transnationalismus, über LBTQI*, Antifaschismus und Utopien. Es wird geträumt auf dem Platz: einen »rêve géneral«, einen gemeinsamen Traum, dass es auch anders geht.
Und zwar nicht nur in Frankreich. Denn in der Internationalen Kommission, in der wir heute Abend mit diskutierten, war man sich einig: Hier handelt es sich nicht nur um eine französische Bewegung. Der Aufstand muss europäisch werden. Damit es nicht nur bei Worten bleibt, werden die Möglichkeiten einer europaweiten Großmobilisierung nach Paris oder Madrid am 15. Mai diskutiert: Dem Jahrestag der spanischen Demokratiebewegung #15M.
Und weil der Place de la Republique auch trotz Nieselregen ein Feuer im Herzen wecken kann, steht diese Idee nicht mehr nur als verrückter Vorschlag, sondern als ernsthafte Möglichkeit im Raum.
> > Dies ist ein Bericht der aktivistischen Reisegruppe »Blockupy goes Paris«. Mehr Eindrücke, Bilder und Videos gibt es bei Blockupy Europe.
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