»Wir leben in Zeiten des Krieges«

Der venezolanische Schriftsteller Humberto Mata sieht sein Land von der Opposition und den USA bedroht

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Der venezolanische Schriftsteller Humberto Mata steht der Biblioteca Ayacucho vor, die sich um das Verlegen lateinamerikanischer Klassiker verdient macht. Mata verfolgt die politische Entwicklung in Venezuela nicht erst seit der bolivarischen Revolution, die von Hugo Chávez nach dessen Wahlsieg 1998 angestoßen wurde. Über die angespannte Lage in Venezuela sprach mit dem 57-Jährigen für »nd« Ute Evers.

Herr Mata, in diesen Tagen gedachte man in Venezuela des 14. Jahrestags des Staatsstreichs vom 11. April 2002 gegen die Regierung von Hugo Chávez. Intellektuelle und Künstler trafen sich in Caracas, es wurden Teilnehmer aus 35 Nationen erwartet.

Ja, aber dieser Staatsstreich ist noch nicht zu Ende. Venezuela lebt in einem permanenten Zustand eines Staatsstreichs. Die Opposition setzt dafür alle Mittel ein. Sie versucht, Unbehagen in der Gesellschaft zu produzieren, sie rationiert Produkte, damit sie knapp werden; sie hält die Gesellschaft in einer Verfassung von Aufruhr, indem sie Nachrichten über Katastrophen verbreitet, die nicht stattfinden, wie das tägliche - falsche - Reizthema, das Land stünde vor der Pleite. Dahinter steckt nur eine Taktik, Schrecken zu erzeugen, um uns Glauben zu machen, dass wir uns am Rande des Abgrunds befänden. Wegen der Opposition leben wir in Zeiten eines Krieges. Da sie nichts Anständiges zu bieten hat, liefert sie anstelle dessen psychische und physische Gewalt. Die erste ist die alltägliche. Die zweite zeigt sich an den Ermordungen von Regierungsleuten oder Mitgliedern von Vereinigungen, die mit der Regierung verbunden sind, durch Paramilitärs.

Welche Erinnerungen haben Sie an jene Tage im April 2002?

Sie sind sehr schmerzhaft. Diese gewalttätige Aktion versetzte das Land in Trauer - es gab sehr viele Tote. Aber der versuchte Staatsstreich wurde niedergeschlagen. Man hatte die »heimatlose« Opposition besiegt, die nichts mit der Bevölkerung zu tun hat, erzeugt sie doch, sobald sie ihren Platz zurückerobert hat, unter dem Volk nur Elend und sehr viel Geld für sich selbst. Sie sind unfähig, etwas anderes zu geben als das, was sie fünf Jahrzehnte lang gegeben haben: Elend, Marginalisierung der wirtschaftlich ärmeren Schichten, die ständige Sorge darum, wie am Besten Devisen aus dem Land geschafft werden können. Alle lebten sie damals vom Öl, doch niemand investierte etwas, um hier Vermögen zu schaffen. Dahin will die Opposition wieder zurück. Hoffen wir also, dass sich die Bevölkerung daran erinnert und sich nicht von momentanen Umständen mitreißen lässt.

In den vergangenen 14 Jahren gab es tatsächlich immer wieder Versuche, das Land zu destabilisieren. So kam es etwa 2014 zu den »guarimbas«, die gewalttätigen Aktionen der Opposition auf den Straßen des Landes.

Die »guarimbas« waren eine Möglichkeit, die Bevölkerung zu vernichten, sie daran zu hindern, sich in den Städten zu bewegen; rücklings diejenigen zu erschießen, die es wagten, einen Kommunikationsweg freizuräumen, den die Opposition mit Müll, verbrannten Reifen etc. verbarrikadierten. Man kam auch auf die irre Idee, Stacheldraht über die Straßen zu ziehen, damit den Motorradfahrern, die trotz Barrikade die Straße benutzen wollten, der Kopf abgetrennt wurde; und das geschah wirklich, es gab tatsächlich Enthauptete bei dieser verbrecherischen Praxis. Es gab viele Tote, niedergebrannte Schulen, ermordete Familien, zerstörte öffentliche Transportmittel - Chaos, um die Wut über die Niederlage des Kandidaten aus der Opposition zu befriedigen. Nachdem sie mit all dem die Regierung dennoch nicht stürzen konnten, schaltete sich USA-Präsident Barack Obama ein: Er erklärte Venezuela zu einer ungewöhnlichen und außergewöhnlichen Bedrohung.

Wie ernst ist die Erklärung aus den USA zu nehmen?

Von den sieben oder acht Malen, als die US-amerikanische Regierung etwas Ähnliches gegenüber anderen Ländern ausgesprochen hatte, endete dies, abgesehen von einer oder zwei Ausnahmen, mit einer bewaffneten US-amerikanischen Invasion. Für Venezuela ist diese Bedrohung sehr ernst. Es gab Tausende von Unterschriften (venezolanische und nicht-venezolanische, d. Red.), die die Aufhebung dieses Dekrets einforderten. Obamas Antwort war, das Dekret um ein Jahr zu verlängern. Wenn sie Venezuela einnehmen, nehmen sie ganz Lateinamerika ein. Argentinien war selbst für sie eine Überraschung, in Brasilien versuchen sie gerade, die Präsidentin Dilma Rousseff zu Fall zu bringen, Venezuela ist indes das größte Hindernis.

Wo steht heute die Bolivarische Revolution?

Die Herausforderung ist, eine demokratische Revolution zu machen und das gelingt uns eben. Darum fürchtet die Opposition diesen Prozess. Heute befindet sich die Revolution inmitten eines Revitalisierungsprozesses. Das bedeutet auch, begangene Fehler einzugestehen; wie etwa, nicht genug auf die Gemeinden mit den kommunalen Basisräten beharrt zu haben. Chávez sagte das immer wieder: »Entweder Gemeinde oder nichts«. Dann: Die Mehrheit der Bevölkerung in Venezuela ist sehr jung. 60 Jahre alt zu sein, bedeutet schon der Vergangenheit anzugehören, das hört sich hart an, es ist aber so; und es sind diese jungen Menschen, die realen Protagonismus in den Amtshandlungen der revolutionären Regierung einfordern. Sie fordern auch Strafe für diejenigen, die gesetzeswidrig gehandelt haben, gleich ihrer Herkunft, auch für diejenigen, die die notdürftigsten Artikel oder Medizin verstecken oder aufkaufen, womit sie künstlich Mangel herstellen, die Preise hochschnellen lassen und das Volk zwingen, sich an langen, beschämenden Schlangen anzustellen. Sie fordern mehr Chavismus, mehr bolivarische Revolution, größere Radikalisierung des Prozesses. Aber: Innerhalb der Demokratie, ohne Demokratie gibt es keine Bolivarische Revolution.

Die Wahlen zur Nationalversammlung am 5. Dezember 2015 markierten einen Wechsel im politischen Panorama. Was waren die wesentlichen Gründe?

Zwei Millionen Venezolaner haben ihr Wahlrecht nicht wahrgenommen und ihre Wahlpflicht nicht erfüllt. Es gab viele Schwierigkeiten, die künstlich von der Opposition erzeugt wurden, dann die maßlose Unterstützung der Medien, die mehrheitlich in oppositioneller Hand liegen. Ja, man könnte fast sagen, sie hätten die Macht des Landes inne, wenn es keine Regierung gäbe, die sich nicht von den Medien, den Banken und den Einmischungen beirren lässt. Das hat aber dennoch einen Nährboden geschaffen, der in einer legal gewählten Nationalversammlung gipfelte, die rechtswidrige Ziele verfolgt.

Zum Beispiel?

Sie erließ ein Amnestiegesetz, um diejenigen freizusprechen, die für die »guarimbas« verantwortlich waren. Es ist inzwischen noch ein weiteres Gesetz auf dem Weg, das denen die Wohnungen wegnehmen soll, die die Regierung den Ärmsten gegeben hatte, um sie nun stattdessen in die Hand von privaten Unternehmen zu geben. Sie werden dann das machen, was die Banken in Spanien per Zwangsräumungen durchsetzten. Doch die Menschen werden sich dessen immer bewusster. Es liegen jetzt schon vier Millionen Unterschriften gegen das Amnestiegesetz vor. Es werden auch Unterschriften gegen das Wohnungsgesetz kommen. Ganz sicher.

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