Was würde Howie sagen?
Siebzig Jahre, 25.568 Nächte
Howard Carpendale und diese Zeitung – da denken Sie jetzt vielleicht nicht unbedingt an Gemeinsamkeiten. Dabei stammt ein kluger Satz von dem Schlagersänger: »Die 70 ist nur eine Zahl – und das spüre ich im Moment mehr denn je.« Mag sein, dass in der Weltgeschichte schon Wichtigeres in Sprache gemeißelt wurde. Von Carpendale. Oder von anderen. Was hat eigentlich Karl Marx zur Zahl 70 gesagt? Sicherlich etwas mit Mehrwert oder Produktionsweise. Das würde auch irgendwie zum Thema hier führen. Aber Marx wird bald 200. Carpendale ist so alt wie wir.
Also: 70 ist zwar nur eine Zahl, aber man spürt so ein Jubiläum dann eben doch. Es ist ein bisschen wie in einer Familie. Je nach gefühltem oder zugewiesenem Abstand zum Jubilar treibt so ein Geburtstag die Leute um. Sie fragen. Sie wollen Dinge wissen. Sie wollen eingeladen werden. Sie wollen nicht eingeladen werden. Sie wollen nicht glauben, dass es diese Zeitung noch gibt. Sie glauben nicht, dass das Blatt ganz anders ist, als ihnen gesagt wurde, dass sie denken sollen. Sie wollen nicht schon wieder eine Jubiläumsausgabe mit Faksimiles alter Zeitungsseiten. Sie wollen etwas anderes. Etwas mit 70. Aber was?
Ich weiß nicht, was Howard Carpendale zu seinem Geburtstag gemacht hat. Wir haben versucht mit ihm zu sprechen – aber er hatte keine Zeit. Irgendeine Tournee oder so. Schade, man hätte ihn fragen können, ob er sich auch fühlt wie 25. Wir haben nämlich nicht nur das Alter gemeinsam. »Ich behaupte, der eigentliche Krieg in dieser Welt ist nicht einer der Kriege, von denen wir täglich hören, sondern das ist der Krieg zwischen Arm und Reich«, das hat Carpendale gesagt. Zu seinem Geburtstag. Es hätte in dieser Zeitung stehen können.
Man muss ja auch nicht immer über sich selbst sprechen zu seinem 70. Andere teilen dieses Schicksal oder Glück oder wie immer man es nennen will – je nachdem: Der Bikini zum Beispiel wird dieses Jahr auch 70. Oder George W. Bush und die SED. Und von denen handelt diese Ausgabe - ein »nd« zum Geburtstag von anderen. Es ist ein »nd« fast ohne Bilder geworden. Die Schreibmaschine hier nebenan ist ein Symbol für jene Zeiten, in denen Typografie noch ganz anders das Gesicht einer Zeitung beherrschte. Und wann immer die Redaktionscomputer heutzutage irgendeine ihrer rätselhaften Fehlermeldungen anzeigen oder in eine Rechengeschwindigkeit verfallen, die jeder 70-Jährige locker übertrumpft, lebt die Erinnerung an alte Zeiten auf. Was Sie auf den folgenden Seiten sehen, sind kurze Ausrisse aus Ausgaben unserer eigenen Geschichte. Die Grafiken haben Michael Pickardt und Holger Hinterseher gestaltet, unser Archiv war fleißig beim Recherchieren. Und es stimmt: So bunt wie in dieser Zeitung war das alte »ND« nie.
Apropos: Über Howard Carpendale hat die Zeitung, als sie noch das Zentralorgan von Männern war, von denen man rückblickend denkt, dass sie immer schon viel älter als 70 gewesen sein müssen, nie ein Wort verloren. Vielleicht weil er aus Südafrika stammt. Vielleicht weil er in der BRD Erfolg hatte. Vielleicht hatte es auch ganz andere Gründe und man wird nie etwas darüber erfahren.
Howard Carpendale übrigens wurde mehrfach mit der Goldenen Stimmgabel ausgezeichnet. Das alte »ND« mit dem Karl-Marx-Orden. Die Zeitung, die Sie vor sich liegen haben, hat auch schon einmal einen kleinen Preis erhalten. Da war sie 69 Jahre alt. Das ist jetzt nicht mehr so. Aber »die 70 ist nur eine Zahl«. Wir machen weiter.
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