Volksfestprotest

Von Leo Fischer

Das Erlebnisbedürfnis der Demonstrierenden steigt in dem Maße, in dem Unterdrückung aus der Ersten Welt ausgelagert wird; man glaubt schlicht der Forderung nicht mehr, wenn sie nicht im Rahmen von Remmidemmi vorgetragen wird.

Angefangen hat es wohl im Zuge der Occupy-Bewegung, wo der antiimperialistische Vortrag neben dem Tantra-Workshop stand; nunmehr ist keine irgend alternativ sich gerierende öffentliche Empörung denkbar, die nicht eben nur die charakterliche Qualität der herrschenden Klasse bemängelte, sondern auch die eigenen Leute bespaßen möchte. Angesichts von Batik-Seminaren, Würstelständen, Kinderbemalen und Lasermeditation, die jetzt im Bann- und Dunstkreis noch der müdesten 1.-Mai-Demo maketendern, wirken die Forderungen nach Arbeitskampf und Solidarität wie die berühmten Einladungen »zum Gedankenaustausch«, mit denen evangelische und sonstige Akademien seit jeher Aufforderungen zum kollektiven Vollsuff bemänteln.

Das Erlebnisbedürfnis der Demonstrierenden steigt in dem Maße, in dem Arbeit wie Unterdrückung aus der Ersten Welt ausgelagert werden; man glaubt schlicht der eigenen Forderung nicht mehr, wenn sie nicht im Rahmen von Remmidemmi vorgetragen wird. Weil die eigene Wut nicht ausreicht, kanalisiert man sie auf Spaß; weil man dem Spaß allein nicht vertraut, nimmt er die Form der Wut an.

Die Austauschbarkeit von Erlebnis und Empörung konnte jeder spüren, der am ersten Maiwochenende öffentliche Verkehrsmittel nutzte. Da reisten die AfD-Rotten zusammen mit ihrer Opposition südwärts; da torkelten enthumanisierte Eintracht-Fans auf der Suche nach Opfern durch die Abteile; da wuselten die Jungaktivisten, die ihre Wut auf Obama, Israel oder sogar das Kapital in die Landeshauptstädte trugen, Seit’ an Seit’ mit Junggesellenabschieden, feierwütigen Seniorengruppen und Klassenfahrten. Ihnen allen gemeinsam der Schnapsgestank, die schlechte Musik, der Wille zum Aufsmaulgeben; sie alle auch makellos ausgestattet mit den Insignien ihrer jeweiligen Fraktion, perfekt gestylt von Spreadshirt und Feiermaxe8000. Im unerbittlichen Bedürfnis nach brutaler Enthemmung, die Selbstentfaltung substituiert, im Zorn auf die Stillen, die sich dem Massensog entziehen, schließlich in der Feier von Geldausgeben, Konsum und Vernichtung, gegen die sie alle doch vorgeblich sind, sind sie nicht zu unterscheiden. Statt sie zu bedrohen, finden sie in der Wirtschaft dementsprechend stabile Partner. Statt dass er sie maßregelt, versorgt der DB-Bistrochef zwinkernd jene, deren Bedürfnis nach Empörung zwanghaft nach der Form des Pogroms sucht. Wer noch Spaß hat beim Protest, hat in Wahrheit gar nichts mehr zu erringen. Die heillose Flucht der Opfer grölender Selbstermächtigung hingegen wäre der Idee dessen, was wirkliche Empörung sein könnte, wohl noch am nächsten.

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