Der Griff nach dem Strohhälmle
Teil 2 der nd-Miniserie »Abstiegskampf«: Wegen Fehlern in der Vergangenheit taumelt Stuttgart der 2. Liga entgegen
In der Fußball-Bundesliga ist die Unsitte weit verbreitet, noch so deprimierende Ereignisse ins Marketingvokabular aus der Resterampe des »positive-thinking«-Hypes zu packen. Was eine gewisse Hierarchie der Schönsprecherei nicht ausschließt: Wer »felsenfest vom Klassenerhalt überzeugt« ist, plant in Wahrheit seit Wochen für die Zweite Liga, wer sagt, dass »rechnerisch noch alles möglich ist«, weiß, dass es die Grundrechenart, auf die er sich beruft, nicht gibt. Und wer sagt, dass man sich an einen »Strohhalm klammern« werde, hat längst den Versuch aufgegeben, die Öffentlichkeit zu täuschen.
Beim VfB Stuttgart sind sie seit vergangenem Samstag auch rhetorisch im finalen Stadium angekommen. Es werden sogar »Strohhalme« bemüht, die eigentlich außerhalb der eigenen Reichweite sind. Wie sagte doch Sportdirektor Robin Dutt? »Wir haben am Samstag die Pflicht, unseren Anteil zu leisten. Dann müssen wir schauen, ob im Weserstadion noch ein Strohhalm steht, an den wir uns klammern können.«
Was soll der arme Mann auch sagen? Die Ausgangslage ist schließlich traurig genug: Der VfB müsste auf alle Fälle in Wolfsburg gewinnen und Bremen gegen Eintracht Frankfurt verlieren. Nur dann hätte sich der VfB noch mal in zwei Relegationsspiele gegen Nürnberg gerettet. Dass an ein Zusammenkommen dieser glücklichen Umstände in Stuttgart kaum noch einer glaubt, war in den vergangenen Tagen augenfällig. Nach dem Platzsturm vom vergangenen Samstag, bei dem sich 500 Fans eine Stunde lang den Frust von der Seele gerufen hatten, ist die Stimmung nicht optimistischer geworden. In den Fanforen beschäftigt man sich seit Tagen mit der Zweiten Liga, den Derbys gegen den Erzfeind aus Karlsruhe, die vergleichsweise nahen Fahrten zu 1860 München, Aalen, Heidenheim, Sandhausen. Dabei müsste »SV Sandhausen gegen VfB Stuttgart« für jeden Fan eines Vereines, der 2007 Deutscher Meister und zuletzt vor 41 Jahren zweitklassig war, wie ein ganz schlechter Witz klingen.
Unerbittlich fällt derzeit die Fehleranalyse aus. Robin Dutt, vor allem aber der so freundliche Präsident Bernd Wahler haben keinen Kredit mehr. Dutt wird vor allem angelastet, dass er sehenden (oder blinden?) Auges die seit Jahren augenfälligen Defizite in der Abwehr bestehen ließ und erst im Winter mit Kevin Großkreutz zumindest einen rechten Verteidiger holte, der bei allen technischen Defiziten bundesligatauglich ist. Der Rest würde wohl bei keinem anderen Erstligisten über den Status des Bankdrückers hinauskommen.
Dabei hat Dutt, der im Übrigen auch erst seit 15 Monaten im Amt ist, genau die Spieler (Großkreutz, Serey Dié, Mitch Langerak) verpflichtet, die die Fans in ihrer Kritik ausnehmen. Zudem gelang ihm die Vertragsverlängerung mit dem dauerverletzten Stürmer Daniel Ginczek und Kapitän Christian Gentner, dem unumstrittenen Kopf der Mannschaft.
In Stuttgart ist den meisten dann auch klar, dass der Verein gerade die Zeche für die Fehler der letzten Dekade zahlt. Die horrenden Ablösesummen, die man für die selbst ausgebildeten Stars Sami Khedira und Mario Gomez erlöste, wurden schlecht reinvestiert, die mittlerweile nur noch sprichwörtlich gute Stuttgarter Nachwuchsarbeit vernachlässigt und stattdessen auf durchschnittlich begabte (und oft überbezahlte) Neueinkäufe gesetzt. Dass der sehr wahrscheinliche Abstieg dann auch keine himmelschreiende Ungerechtigkeit, sondern die logische Konsequenz aus der Entwicklung seit 2007 ist, mindert den Schmerz im Schwäbischen auch nicht.
Ein Hoffnungsschimmer bleibt: Immerhin spielt man am Samstag gegen einen Gegner, bei dem Aufwand und Ertrag in einem noch schlechteren Verhältnis stehen wie bei den Schwaben. Wer darauf wettet, dass ausgerechnet die verwöhnten Wolfsburger Spieler am letzten Spieltag noch mal aufdrehen, muss schon einer der wenigen Fans der Niedersachsen sein. Für den VfB ist es ein Strohhälmle. Mehr nicht.
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