Lieber Karl May als Karl Marx
Nazihosenmatz, Musterstudent, Filou, bourgeoises Schwein, Kuchenbäcker, Charity-Lady, Dandy, Tollpatsch, Eiskremschlecker, Papiertiger. Über das rätselhafte Leben des grünen Mischwesens und Zwischenrufers Christian Ströbele, der auch einmal Papst werden wollte
Er ist ein waschechtes Berliner Original, ein Filou vom alten Schlag und trotz seiner vorgerückten Jahre immer noch geistig sehr rege: Hans, besser bekannt als Christian Ströbele, der Berliner Lokalpatriot mit dem Herz auf der Goldwaage, gehört zu Berlin wie Konnopke, Kö und Kölner Dom - und wenn es der auch von ihm sehr verehrte Herrgott will, wird er noch viele Jahre die Herzen der Berliner beseelen, im Kiez seine Bahnen ziehen und mit seinen drolligen Späßchen zum Lachen reizen. Ihm darf, ihm kann man nicht entgehen: Wenn er nicht gerade die »Paris Bar« oder das »Borchardt« unsicher macht, sieht man ihn meist im Regierungsviertel herumradeln, in gemessenem Tempo, immer rundherum um den Reichstag, bereit, jederzeit für ein Schwätzchen über dies und das vom Drahtesel zu springen. Eine nun frisch herausgepresste Biographie versucht, den legendären Entertainer dingfest zu machen, dem rätselhaften Mischwesen auf die Schliche zu kommen.
Dass er von einer Menschenfrau geboren ward, gilt laut Reinecke als sicher: nicht aber in Berlin, sondern im fernen Schkopau. Schon der junge Ströbele ist ein wacher Beobachter der Zeitläufte: »Das Kriegsende verläuft in Schkopau recht glimpflich«, weiß der Biograf zu berichten. »Christian fällt auf, dass sich etwas verändert: Im Radio fehlen die täglichen Berichte über die Siege und heroischen Rückzüge der Wehrmacht.« Kaum ist Hitlers Reich zerschmettert, macht sich Familie Ströbele auf, sich den neuen Herrschern anzubiedern: »Die US-Besatzer sind für die Ströbeles, wie sich bald zeigt, ein Glücksfall. Die Naziflagge, die die Ströbeles im Haus haben, wird nicht mehr gebraucht. Mutter Gabriele, talentiert im Umgang mit Stoffen, näht aus dem Hakenkreuztuch im April 1945 rote Turnhosen für die Kinder.«
Munter turnt Christian seither in seinen Nazihosen herum, fertigt sich zum Indianerspielen »einen Kopfschmuck aus Kaninchenfell und mit Kuhhörnern, die er von der Abdeckerei holt«. Trotz dieser Leistungen gibt es, das betont Reinecke, bei den Ströbeles »keinen Klassendünkel«. Sondern nur »das selbstverständliche Bewusstsein, dass man zur gebildeten Elite gehört«; früh beschließt Jung-Christian daher auch, »wenn er einmal groß ist, Papst zu werden«.
Seiner Mutter, seit den 50er Jahren Anthroposophin, wird dieser kindliche Größenwahn schnell lästig: »In der Schule sorgt sie dafür, dass Christian nicht geimpft wird, weil die anthroposophische Medizin Impfungen ablehnt. Dass sie dies in der Schule durchsetzt, zeigt, dass sie sich gegen Autoritäten zu behaupten weiß.« Trotzdem überlebt Ströbele die Schulzeit nahezu unbeschadet; der geliebte Onkel, der bekannte Sportkommentator und Russenschlächter Herbert »Tooor, Tooor, Tooor« Zimmermann, schützt ihn vor allzu engagierten Mordversuchen der Mutter.
Es dem verehrten Landser-Onkel gleichzutun, geht Christian zur Bundeswehr. Mit Erfolg: »Kanonier Ströbele verfügt über ein besonderes Talent: Er ist einer der besten Schützen des ganzen Bataillons … ›Ich habe gern geschossen‹, sagt Ströbele. Weil er bei der Schießausbildung viele virtuelle Feinde vom Himmel über der Ostsee holt und Panzerattrappen in der Lüneburger Heide unschädlich macht, gewinnt er sogar einen Rundflug mit einem Bundeswehrhubschrauber.« Damit will er sich jedoch nicht abfinden. Er will nach Berlin, Karriere machen! Bald sieht man den Jurastudenten, der am liebsten die »Welt« unterm Arm führt, durch die Stadt spazieren. Noch ist sein politisches Interesse nicht gänzlich erwacht: Die Eichmann- und Auschwitz-Prozesse nimmt der »Student Ströbele« »zur Kenntnis, ohne davon sonderlich berührt zu sein oder Position zu beziehen«.
Eine Zurückhaltung, die sich auszahlt: »1967 ist er 28 Jahre alt, ein disziplinierter, angehender Jurist mit guten Karriereaussichten; er ist Besitzer einer Eigentumswohnung und mit einer Diplomatentochter verheiratet.« Reinecke muss davon ausgehen, dass der Musterstudent Ströbele eher zufällig in linksterroristische Kreise hineinstürzt; noch 1968 findet er ihn auf keinem Demofoto wieder, in keinem Erinnerungsband über »Alt-68« (Joschka Fischer) ist sein Handeln vermerkt. Warum will er unbedingt zu den verrückten Linken, warum tritt er 1968 ausgerechnet in die SPD ein? Man weiß es nicht: »Karl May, dessen Werke er mit erstaunlich ungebremster Euphorie zeitlebens schätzt, ist ihm näher als Karl Marx.« Fast ist der Biograf selbst ein bisschen verzweifelt darüber, dass sich sein Studienobjekt ohne Not so unglücklich macht.
Und unglücklich wird er, der spätere Sonnenschein der Grünen, weiß Gott: In der Anwaltskanzlei enttäuschen ihn Schreibmaschinendamen durch übertrieben langes Krankfeiern (zwei Tage!); vor Gericht muss er die renitente Rasselbande RAF durchpeitschen. Und eher geht ein Sack Flöhe durch ein Nadelöhr, als dass sich die frechen Strolche von ihm etwas sagen lassen! Vor allem von Ensslin und Meinhof muss er sich einiges gefallen lassen: »Ratte«, »Kretin«, »ganz übles bourgeoises Schwein« wird er da genannt - Spitznamen, die ihm auch als Abgeordeter noch anhaften werden. Die boshaften Sprüche trägt er mit Fassung, einer quasi katholischen Leidensmiene: »Egal, was Baader und Meinhof tun, wie schwierig, ungehobelt und asozial sie sich aufführen, sie bleiben für ihn Teil der linken Großfamilie.« Mit dem Unterschied, darauf wird Reinecke nicht müde hinzuweisen, dass Ströbele als bürgerlicher Anwalt »viel Geld verdienen und spannende Prozesse« hätte führen können. Ströbele, Opfer seiner Zeit, Tochter seiner Klasse.
Das Mutti- oder doch eher Mulihafte, eine geradezu indolente Gutmütigkeit jedenfalls zeigt sich auch bei der Gründung der »Taz«: »Er nimmt kaum Einfluss auf die Redaktionsarbeit, er ist nicht intrigant und beglückt die Samstagsplenen überfraktionell mit großen Kuchenblechen.« Ja, fast muss man annehmen, dass Ströbele über die ganzen 80er Jahre hinweg hauptsächlich Kuchen gebacken hat; auch während seiner Charity-Aktion »Waffen für El Salvador«, bei der er den Rebellen schlappe fünf Millionen Mark vermittelt, dürfte es so manches saftige Kuchenstück für die Freiheitskämpfer gegeben haben.
Im Bundestag macht er sich zwischenzeitlich als Zwischenrufer einen Namen, »er gibt Kontra und kann frei reden, ohne sich zu verhaspeln - das ist nicht die Regel in der grünen Fraktion 1985«, schreibt Reinecke nicht ohne Ohrenzwinkern. Ströbele, der die Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit seines Vaters zeitlebens konsequent vermeidet, findet im Bundestag klare Worte; gekonnt vergleicht er die militärischen Strategien der Reagan-Administration mit denen Hitlers, nimmt die Amis kollektiv in Verantwortung für ihre Verbrechen, nicht ohne die Deutschen in die Rolle verfolgter Juden zu setzen. Auch all dies geschieht praktisch ohne Hast und Haspeln, in sehr gefestigter Gemütsruhe.
Wer ist Ströbele? Ein Erlebnishungriger, der die alternative Szene pflegte wie ein kostspieliges Hobby; ein zerlumpter Dandy, der das »Recht auf Militanz« verteidigt und sich doch von allem Gewaltförmigen sauber fernhält; ein ewiger Urlauber und »passionierter Eisesser«, der 1989 aus Moskau berichtet: »Das Schokoladeneis an der Ecke schmeckte wie Kakaopulver mit Schnee.« Ein kritischer Zwischenrufer eben auch hier.
Aber Ströbele ist noch mehr: ein etwas angegrauter Parsifal mit den Hemdsärmeln am rechten Fleck; ein sorgloses Spielkind, dessen oft geradezu tollpatschiges Auftreten nur durch pures Glück korrigiert werden kann: Als Israel Anfang der 90er Jahre mit irakischen Scud-Raketen bombardiert wird, reist er sofort nach Jerusalem, um den Israelis mitzuteilen, dass sie an dieser misslichen Situation wohl auch ein bisschen selber schuld sind. Hier, ausgerechnet hier, soll ihm sein unermüdliches Engagement für Frieden und Abrüstung auch einmal verübelt werden; eine wütende Menge lauert ihm vor dem Hotel auf. Er ist halt eben oft der falsche Mann am falschen Ort zur richtigen Zeit.
Nach seinem Israel-Feldzug wird es still um Ströbele. Die rot-grüne Koalition beobachtet er eher aus der Ferne; die stundenlangen Radumrundungen des Reichstags bekommen fast etwas Melancholisches. Nur einmal macht er noch von sich hören: Als der amerikanische Deserteur Edward Snowden in Russland ein kaltes Exil findet, reist ihm Ströbele hinterher. Was sie besprochen haben, ist nicht bekannt, doch auch hier dürfte es um Frieden und Abrüstung gegangen sein; und einiges an Kuchen, Eis und Törtchen wird wohl auch hier weggeschleckt worden sein. Beschwerden Snowdens sind jedenfalls nicht überliefert (wg. Intransparenz).
Vielleicht ist »Beschwerdefreiheit« das Kennzeichen dieses leidenschaftlichen Papiertigers: Nie fiel er jemandem groß zur Last, und wenn doch, hat er sich immer dafür entschuldigt. Gesegnet mit Alterslosigkeit und unstillbarer Lebenslust, wird er den Berlinern noch lange erhalten bleiben; wenn nicht, so möge eine rührige Stadtteilinitiative schon jetzt Einbalsamierung und Mausoleum vorbereiten. Er hätte es verdient.
Stefan Reinecke: Ströbele. Die Biografie. Berlin-Verlag, 464 S., 24 €.
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