Ich gehe mich einen Dreck an

Geltungsbedürfnis kennt heute keine Grenzen mehr. Die Verheißung lautet: Jeder kann jederzeit zum Star werden. Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit ist omnipräsent. Von Wolfgang M. Schmitt

  • Wolfgang M. Schmitt
  • Lesedauer: 6 Min.

Der einzige deutsche Star von Weltruhm, Marlene Dietrich, verabschiedete sich 1978 von der Leinwand. Die Dreharbeiten zu David Hemmings »Schöner Gigolo, armer Gigolo« gestalteten sich schwierig: Die gesundheitlich angeschlagene Diva lebte zu dieser Zeit bereits zurückgezogen in ihrer Pariser Wohnung und ließ sich wohl nur wegen einer hohen Gage zu diesem Film überreden, der heute längst im Abgrund der Filmgeschichte verschwunden wäre, wenn darin eben die Dietrich nicht einen legendären Auftritt hätte. Nur noch ein paar Schritte, das war vertraglich festgelegt, geht die Dietrich zum Klavier, an dem ein trauriger Pianist das noch viel traurigere Lied »Just a Gigolo« spielt.

Einen Hut mit Schleier tragend, singt Marlene das berühmte Lied, das wie gemacht für einen Abschied zu sein scheint. »When the end comes, I know, they›ll say‚ just a gigolo as life goes on without me«, heißt es im Refrain. Es ist ein Song über den Bedeutungsverlust angesichts der Vergänglichkeit und ein Song über die Selbstvermarktung, verkauft der Gigolo doch, wie eine Strophe erklärt, jeden Tanz und jede Romanze. Und was, fragt man sich, ist der Star schon anderes als ein Gigolo? Nach diesem letzten Film zog sich die ewige fesche Lola für immer in die Einsamkeit zurück. Um von sich das Bild des Stars zu retten, lebte sie verborgen vor der Öffentlichkeit.

Mit Marlene Dietrich trat nicht nur eine Diva ab, sondern ein bestimmter Startypus. Zwar gibt es noch immer Stars, ja, heute wird der Begriff nachgerade inflationär verwendet, doch stellen diese Stars das Intime zur Schau. Unnahbar kann oder will niemand mehr sein. Dabei sind die Stars und Sternchen von heute nicht nur so wie wir alle, sondern wir alle wollen so sein wie sie. Wir googeln uns, posten unsere Selfies auf Instagram, berichten auf Facebook und Twitter über unser Leben und bisweilen ist nicht mehr auszumachen, ob unsere Profile in den sozialen Medien uns oder vielmehr wir den Profilen entsprechen. Kurzum: »Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit«, wie der Psychologe Carlo Strenger sein neues populärwissenschaftliches Buch betitelt hat, treibt uns an.

Der Star des neuen Typs ist zu einer virulenten Kulturfigur geworden, nun dem Gigolo noch näher. Wir alle vermarkten uns ständig selbst. In extremer Weise zeigt sich dies auf diversen Dating-Portalen im Internet: Nutzerinnen der Dating-App Tinder berichten von Taschengeldangeboten, die Flirt-Seite Gayromeo für Schwule bietet parallel Escortservice an und auf Amateur-Porno-Seiten ziehen sich Frauen, Männer und Paare gegen ein Trinkgeld live vor der Kamera aus. Dabei versprechen diese Portale, die ihre Mitglieder gerne in Rankings aufführen und nach bestimmten warenförmigen Merkmalen kategorisieren, Ruhm, Anerkennung und viele Fans. Jeder kann ein Star sein, wenn er sich zu Markte trägt!

Carlo Strenger glaubt, die Finanzkrise von 2008 habe alles verändert und stelle den neoliberalen Selbstoptimierungswahn radikal in Frage. Vorbei seien bald die Zeiten, in denen der Mensch ganz und gar im selbstgefälligen Infotainmentsystem aufgehe, denn die Krise habe die leeren Glücksverheißungen erschüttert und nun gelte es, erneut nach dem zu fragen, was ein erfülltes menschliches Leben ausmache. Die Antwort darauf sucht Strenger in der kulturellen und intellektuellen Geschichte des Westens und plädiert für eine »Weltbürgerschaft«, die im Gegensatz zum Kosmopolitismus nicht »wohlfeile Weltläufigkeit« meint, sondern eine »Kooperation über die Gräben und Ideologien hinweg« anstrebt. Der »Homo Globalis« ist laut Strenger der Mensch der Zukunft, der nicht mehr länger den Star nachahmt, sich stattdessen in die globale Gemeinschaft integriert und sich darin selbst entfaltet.

Doch zunächst zum Ist-Zustand: Im gegenwärtigen Kapitalismus verkommt der Mensch zu einer Ware, die evaluiert, taxiert und verkauft werden kann. Strenger untersucht die Bestseller der Ratgeberliteratur - von Karriereanleitungen über New-Age-Breviere bis hin zu Rhonda Byrnes »The Secret« - und diagnostiziert, dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten der Markt der Ich-Kommodifizierung unaufhörlich expandierte. Aus der Angst, bedeutungslos zu sein, erwuchs eine Sucht nach Bedeutung, die in dem Werbeslogan »Just Do It!« des Sportwarenkonzerns Nike kulminierte. Es ist alles möglich und nur Reichtum und Ruhm machen glücklich, suggeriere dieser Spruch einem jeden und führe damit ins genaue Gegenteil: ins Unglück. Strenger hingegen gibt zu bedenken, dass nicht alles möglich sei und man die Spannung »zwischen der Faktizität unserer Herkunft und dem Wunsch, unser Leben selbst zu erschaffen«, aushalten müsse. Nur so sei ein erfülltes Leben möglich.

Künstler, Politiker und Intellektuelle hätten es vorgemacht. Strenger exemplifiziert dies anhand der Biografien von Barack Obama, der Islamkritikerin Aayan Hirsi Ali und des Schriftstellers Philip Roth. Spätestens an dieser Stelle wird Strengers Buch angreifbar. Wurde ein paar Seiten zuvor noch der Prominentenkult harsch kritisiert, stützt sich die Argumentation nun selbst auf Promis. Wurde eben noch die Abwertung von gewöhnlichen Lebensläufen beklagt, werden nun außergewöhnliche Karrierewege gepriesen.

Carlo Strenger hat einen Ratgeber für all jene geschrieben, die von der Ratgeberliteratur genug haben, doch schreibt er diese eigentlich nur fort - wenn auch in modifizierter Form. Besonders deutlich wird dies am Ende, wenn er in grenzenlosem Optimismus das globale Agieren der Bill & Melinda Gates Foundation als vorbildlich für uns alle lobt. Strenger will nicht sehen, dass diese Stiftung in erster Linie ein riesiges Geschäftsmodell ist, und singt lieber ein Loblied auf Gates und die anderen vermeintlich altruistischen Milliardäre, die »den bürokratischen Schlendrian der nationalen Regierungen umgehen«. Auch sonst bleiben Strengers Ausführungen oft unbefriedigend.

Anekdoten aus Therapiesitzungen, Zusammenfassungen von philosophischen und psychologischen Theorien und vermischte Betrachtungen zum Zeitgeist wechseln sich ab. Zwar bleibt Strenger stets auf dem Boden der Vernunft und seine Kritik an der »Kapitulation des Geistes« angesichts der in esoterische Gemischtwarenläden sich verwandelnden Buchhandlungen ist ehrenwert, doch liest man das nicht gerade zum ersten Mal. Die Journalistin Barbara Ehrenreich analysierte derlei Phänomene bereits amüsant und tiefgründig in ihrem Buch »Smile or Die: Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt«. Zudem ist Strengers These, wonach das Individuum von den Anforderungen und Nötigungen der Gegenwart überfordert sei, keineswegs neu und wurde bereits klüger von Alain Ehrenberg in »Das erschöpfte Selbst« und Byung-Chul Han in »Müdigkeitsgesellschaft« ausgeführt.

An ihrem Lebensabend war Marlene Dietrich jedenfalls erschöpft und frei zugleich. 1984 war sie dann doch noch einmal im Kino zu erleben. Jedoch konnte man sie in Maximilian Schells Dokumentarfilm »Marlene« nur noch hören, aber nicht mehr sehen. Sie sei »zu Tode fotografiert worden« konstatierte sie. Und Schells Frage, ob sie die vielen Biographien über sich gelesen habe, verneinte sie mit den Worten »Ich gehe mich einen Dreck an!«. Vielleicht ist diese souveräne Haltung des preußischen Stars eine Möglichkeit, dem kapitalistischen Ich-Kult zu entkommen.

Carlo Strenger: Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Das Leben in der globalisierten Welt sinnvoll gestalten, Psychosozial-Verlag, 323 S., geb., 34,90 €.

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