«Bitte gehorsamst ...»
Der gute Mensch von Aleppo - Wie Konsul Walter Rößler die Armenier zu retten versuchte
Er war nicht zum Helden geboren. Doch als die Not der Zeit an ihn herantrat, verschloss er sich nicht. Er tat das ihm Mögliche.« Dafür gebührt ihm Respekt. Doch erst wenn die Türkei offiziell den Völkermord an den Armeniern anerkennt, dürfte das Vermächtnis des Konsuls Walter Rößler erfüllt sein, schreibt Kai Seyffarth in seiner bemerkenswerten Biografie über einen Helfer der verfolgten Armenier. Mehr als 200 Telegramme und ausführlichste Berichte sandte der deutsche Diplomat über den Genozid im Osmanischen Reich an das Auswärtige Amt und die Reichsregierung. Früh erkannte er, dass es sich bei den Morden und Deportationen nicht um »kriegsverursachte Ausschreitungen« handelte, wie noch heute in der Türkei behauptet wird, sondern um ein koordiniertes Ausrottungsprogramm.
Rößler hoffte inständig, das Deutsche Kaiserreich würde den Bundesgenossen im Weltkrieg ermahnen, die Gewaltexzesse zu stoppen. Doch nichts dergleichen geschah. Weil die Entscheidungsträger in Berlin nicht willens waren, einzugreifen. Die Entlastung deutscher Truppen im Mehrfrontenkrieg gegen Frankreich, England und Russland hatte Priorität. Da durfte die jungtürkische Regierung nicht verprellt werden.
Wenn also der Bundestag diesen Donnerstag eine Resolution beschließt, mit der die Türkei zur endlichen Anerkennung des Völkermordes aufgefordert wird, ist auch von deutscher Schuld zu sprechen. Indes, man sollte sich zugleich jener Deutschen erinnern, die nicht schwiegen, nicht wegschauten, sich empörten und das schändliche Verbrechen publik machten. Beispielsweise Harry Stürmer, 1915/16 Korrespondent der »Kölnischen Zeitung« in Konstantinopel, der die deutsche Untätigkeit als »bodenlose Feigheit«, »Gewissenlosigkeit« und »kurzsichtige Dummheit« brandmarkte. Oder der Orientalist Johannes Lepsius, der 1919 - gestützt auch auf Dokumente des Konsuls in Aleppo - Augenzeugenberichte veröffentlichte; sein Buch wurde von der Zensur beschlagnahmt. Und Franz Werfel, der mit seinem Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« Leid und Verzweiflung der Armenier anrührend beschrieb.
Geboren im Jahr der Reichsgründung 1871 als Sohn eines Bismarck- Verehrers wird Walter Rößler preußisch-protestantisch und deutschnational erzogen. Er genießt eine klassische Bildung, lernt Hebräisch, studiert Geschichte, Philosophie und Theologie sowie Arabisch. Es zieht ihn hinaus in die Welt, er bewirbt sich mit Erfolg beim Auswärtigen Amt, wird als Dolmetscher ans Konsulat in Sansibar geschickt und hernach zum Vizekonsul in Jaffa ernannt. Im Mai 1910 übernimmt er die konsularischen Geschäfte in Aleppo.
Am 10. Mai 1915 berichtet er dem deutschen Botschafter in Konstantinopel Freiherr Hans von Wangenheim sowie Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg: »Alle Armenier von Besitz, Bildung und Einfluß sollen beseitigt werden, damit nur eine führerlose Herde zurückbleibt.« In folgenden Schreiben, so am 8. Juli, benennt er konkreter die Schuldigen: »Türkische Miliz und Gendarmerie hat Metzeleien mindestens geduldet, wahrscheinlich sich daran beteiligt. Die Armenier in weiten Distrikten gelten offenbar als vogelfrei.« Seine alarmierende Meldung vom 27. Juli: »Auf dem Euphrat treiben von neuem und in verstärktem Maße Leichen herunter, diesmal hauptsächlich Frauen und Kinder ... Ist keine Möglichkeit, dem Gräuel Einhalt zu tun? Bitte gehorsamst Auswärtiges Amt zu benachrichtigen, damit amtliche türkische Dementis nicht in deutscher Presse Aufnahme finden, wodurch Anschein deutscher Billigung erweckt wird.« Rößler will nicht akzeptieren, dass die deutsche Regierung sehr wohl billigt, aus eigennützigen, kriegsstrategischen Interessen.
Freilich, der Diplomat ist nicht naiv und insistiert dennoch: »Meine bisherige stenographische und schriftliche Berichterstattung dürfte dargetan haben, dass die türkische Regierung über den Rahmen berechtigter Abwehrmaßregeln gegen tatsächliche und mögliche armenische Umtriebe weit hinausgegangen ist, vielmehr durch die Ausdehnung ihrer Anordnungen, deren Durchführung sie in der härtesten und schroffsten Weise den Behörden zur Pflicht gemacht hat, ... bewusst den Untergang möglichst großer Teile des armenischen Volkes mit Mitteln herbeizuführen bestrebt ist, welche dem Altertum entlehnt sind, einer Regierung aber, die mit Deutschland verbündet sein will, unwürdig sind.«
Rößler äußert die Vermutung, dass die türkische Regierung die »Gelegenheit« des weltweiten Völkergemetzels nutzen will, um sich der armenischen Frage für die Zukunft zu entledigen. Er bittet und bettelt, ob den in todbringende syrische Wüste gejagten Armeniern - »sollte aus militärischen Gründen ihre Verschickung unumgänglich sein« - nicht zumindest Tragetiere und Lebensmittel mitgegeben werden könnten. Doch auch seine mehrfache Aufforderung, den Abdruck der Propagandalügen der osmanischen Depeschenagentur »Agence Milli« in der deutschen Presse zu unterbinden, bleibt in Berlin und bei den ansonsten verbotsfreudigen Zensoren ungehört. Trotz Beistandes des neuen deutschen Botschafters Paul Wolff Graf Meternich zur Gracht, der aus Konstantinopel nach Berlin gleichfalls telegrafiert: »Auch sollte man in unserer Presse den Unmut über die Armenier-Verfolgung zum Ausdruck kommen lassen und mit Lobhudeleien der Türken aufhören.«
Biograf Seyffarth verweist (nicht zur Entschuldung des Genozids der Türken) auf damals weit verbreitete sozialdarwinistische Gedanken bei den europäischen Großmächten selbst: »Hysterische Untergangsfantasien verstärkten die Ansicht, Vertreibung und Völkermord seien legitime, ja geradezu notwendige Mittel im Verteilungs- und Überlebenskampf der Nationen.« Aber warum die Armenier? Weil sie eine christliche und ethnische Minderheit waren. Und als Sündenbock geeignet schienen für die schmähliche Niederlage des von Kriegsminister Enver Pascha persönlich angeführten Winterfeldzuges 1914 gegen Russland, bei dem eine ganze Armee ausgelöscht wurde. Ähnlich der späteren deutschen »Dolchstoßlegende« wurden die Armenier dafür verantwortlich gemacht, ihnen prorussische Sympathien und Spionage unterstellt. »Zwar hatten sie in der türkischen Armee tapfer gekämpft, wie selbst Enver nicht umhin kam zu bestätigen, doch Tatsachen waren noch niemals ein Hinderungsgrund für paranoide Verschwörungstheorien«, kommentiert Kai Seyffarth.
Dem Bremer Donat-Verlag ist zu danken für diese informative und berührende Hommage auf einen Deutschen, der sich in mörderischer Zeit Ritterlichkeit, Anstand und Menschlichkeit bewahrte. Ebenso für weitere aufklärende Bücher zum 100. Jahrestag des Völkermordes an den Armeniern. Verleger Helmut Donat hat sich just noch mit einem »Offenen Brief« für die Opfer in die Bresche geworfen. Der Bundesregierung empfiehlt er, zu brechen mit der unseligen Tradition deutscher Diplomatie, wie sie in der zynischen Antwort des Reichskanzlers Bethmann Hollweg auf einen Protest des Botschafters Wolff-Metternich im Dezember 1915 zum Ausdruck kam: »Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. «
Walter Rößler durfte übrigens 1921 auf Anweisung des deutschen Außenministeriums beim Mordprozess Talât Pascha in Berlin nicht aussagen. Warum wohl nicht?
Kai Seyffarth: Entscheidung in Aleppo. Walter Rößler (1871-1929). 352 S., geb., 16,80 €. Harry Stürmer: Zwei Kriegsjahre in Konstantinopel. 208 S., geb., 14,80 €. Yetvart Ficiciyan: Der Völkermord an den Armeniern im Spiegel der deutschsprachigen Tagespresse 1912-1922. 448 S., geb., 19,80 €. Alle drei Titel erschienen im Donat-Verlag.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.