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Den Himmel nicht einstürzen lassen

Das Festival »Projeto Brasil« begeistert mit fulminantem Tanz

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Wir lehnen den Regierungs-Putsch ab, und wir akzeptieren die Putsch-Regierung nicht! Mit flammendem Protest in den Jubel der Zuschauer hinein endete die Auftaktpremiere des »Projeto Brasil« im HAU2. Gesprochen hat sie mit Lia Rodrigues eine der renommiertesten Choreografinnen des kontinentgroßen, derzeit politisch instabilen Landes. Nicht nur der Sturz der gewählten Präsidentin empört die Gemüter, sondern ebenso der von der konservativen Übergangsregierung versuchte Kahlschlag sozialer Errungenschaften und politischer Rechte. Zwar musste sie die Abschaffung des Kulturministeriums zurücknehmen; Ungleichheit, Chancenlosigkeit, Diskriminierung der farbigen und indigenen Bevölkerung bleiben bestehen. Brasilien - ein Pulverfass mit ungewissem Explosionspotenzial.

Dass sich Kunst und Künstler dazu verhalten, scheint angesichts ihrer Lage verständlich wie notwendig. »Projeto Brasil« als Gemeinschaftsprojekt der fünf Produktionsstätten HAU Berlin, HELLERAU Dresden, Tanzhaus Düsseldorf, Mousonturm Frankfurt und Kampnagel Hamburg bietet ihnen ein Podium, außer Stücken auch ihr gesellschaftliches Engagement zu zeigen. Fast zwei Wochen lang machen in den drei Spielorten des HAU Tanz und Theater, Ausstellung und Debatte aufmerksam auf die Umbrüche seit und bereits vor dem Umsturz. Es gilt, poetische Metapher, den fallenden Himmel zu halten, von dem ein Yanomami-Schamane und ein Anthropologe in ihrem Buch berichten. »The Sky Is Already Falling« lautet zugespitzt der Untertitel des »Projeto Brasil«.

Auch Lia Rodrigues greift für ihre Premiere dieses Bild auf. »For the Sky Not To Fall« ist ein frenetisches Ritual, als würde von der Intensität der zehn Tänzer Brasiliens weiteres Schicksal abhängen. Es beginnt überraschend ruhig. Mit Kaffee, dann mit Mehl, später mit Kurkuma färben sie die Gesichter und ihre nackten Körper. Beim lautlosen Gang durch die umlaufenden Zuschauer vermitteln sie, kurz verhaltend und reglos blickend, Farbe und Duft ihres Landes und weisen mit Braun und Weiß auch auf den Kontrast zwischen den Ethnien hin. Daraus entwickelt sich, angeführt von einer Art Schamanen, das Tranceritual, bei dem sich die Formation in beständigem Pulsieren verändert wie eine kontrahierende Zelle. Aufschreie entfahren den kämpfenden Leibern, denen die Zuschauer nur ein kleines Karree als Raum lassen. Das steigert nochmals die Intensität bis zur Ekstase, aus der am Ende Ruhe erwächst, als seien die Seele gereinigt und der Himmel ein wenig gestützt.

Das hätte er auch nötig, denn Lia Rodrigues und ihre seit 1990 bestehende Companhia de Danças arbeiten unter nicht einfachen Bedingungen in Maré, einer der größten Favela Rio de Janeiros. Die umgebaute Halle steht zudem Einwohnertreffen, Konferenzen über öffentliche Sicherheit, einem Stadtteiltheaterprojekt und seit 2012 einer freien Tanzschule mit über 300 Schülern sowie einer weiterführenden Tanzausbildung offen. Wie sehr der Tanz in Brasilien immer auch mit sozialen Anliegen verbunden ist, bewies ebenso das zweite Tanzgastspiel. Auch die jüngere Alice Ripoll ist in Rio ansässig, auch sie will Jugendlichen aus Favelas durch künstlerische Arbeit eine Zukunft bieten. Zehn von ihnen hat sie über ein Casting ausgewählt und in drei Wochen intensiver Proben das Stück »Suave« kreiert, mit einem Budget von nur 5000 Euro. Was sie dazu braucht, ist der weiße Tanzteppich des HAU1 bei sonst dunkler Aushängung - und ihre formidablen Tänzer im Teenager-Alter. Einzeln entern sie aus dem Zuschauerraum die Szene. Der erste tanzt in der Stille seine HipHop-Moves, flirtet dann mit den Zuschauern, lächelt, zwinkert mit den Augen. Als der zweite sich legt und verbale Rhythmen produziert, ist das Anfeuerung für den HipHopper. Zwei Jungen finden sich aus dem Lauf in einem Flugduett mit Hebern, Rutschern, Tierspiel, unbefangen und mit erotischen Momenten. Wie zärtlich und vertrauensvoll sie auch im Weiteren miteinander umgehen, sie sanft bei aller atemverschlagenden Virtuosität der ganze Abend läuft, darf als Gegenentwurf zu jener Gewalt stehen, für die die Favelas in ihrer Tristesse bekannt sind. Passinho, kleiner Schritt, nennt sich jener gerade populäre Stilmix aus Breakdance, Samba, Capoeira und Voguing. Dass Mädchen dabei ihren »Mann« stehen, eines gar moppelig, und ein Transsexueller mit Endlos-Beinen bestrickt, macht »Soft« zum vor Energie, Lebensfreude und tänzerischer Urgewalt nur so vibrierenden Plädoyer für die Einheit in der Vielfalt - und gibt Hoffnung für ein höchst komplexes Land. »Temer muss weg!« skandieren sie am Ende vereint dem Putsch-Präsidenten zu.

Bis 19.6., HAU Hebbel am Ufer, Kreuzberg, Tickets unter 259 004 27, www.hebbel-am-ufer.de

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