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Die Stunde der Imker
Marcus Roloffs Gedichte
Reinzeichnung«: Das im Titel enthaltene Versprechen erinnert an den als Eindruckskunst bezeichneten Impressionismus. In Marcus Roloffs Gedichten wird die impressionistische »Forderung höchster Empfänglichkeit, differenziertester, hingebungsvollster Aufnahmefähigkeit« (Luise Thon) von Eindrücken wohl eingelöst. Doch geht es ihm nicht so sehr um eine passive Grundhaltung des wahrnehmenden Subjekts, die dessen Aufnahmefähigkeit bedingt, sondern um den Augenblick, in dem sich Aufnahmefähigkeit erschöpft: »dass dies gestorbensein so / aus dem schatten springt // aus dieser röntgenmaske / dem dreifaltigen flipchart // hat mich aus dem tritt gebracht / als du dich hinknietest / hörte ich auf genauer hinzusehen«. Erst bei Überreizung und Rhythmusverlust, wenn man von Eindrücken erschlagen wird und aus dem Tritt kommt, wenn das wahrnehmende Bewusstsein zu einem vollen Inspirationsspeicher wird, so dass man nicht mehr genauer hinsehen muss, wird Schreiben möglich.
Gesucht werden Eindrücke zum Beispiel in Museen. Die lyrische Verarbeitung bildender Kunst nimmt in Roloffs Dichtung einen wichtigen Platz ein. Seine Gedichte sind zugleich kunstkritische Texte. Bei der Betrachtung von Kunstwerken wird das hermeneutische Verfahren der immanenten Kritik angewendet: »die leinwand das / gefrorene handtuch in dem ich / verschwand // mein nicht geschnittener / blick (immanenz), wirf mich durch etwas / gegen null gehendes // aus dem raum zurück«. Das heißt, das Kunstwerk wird nicht mit den eigenen Standpunkten konfrontiert, sondern an jenen Grenzen und Gesetzen gemessen, die es selbst hervorruft.
Diese Art der Kunstbetrachtung hängt mit der Poetologie des 1973 in Neubrandenburg gebürtigen Dichters zusammen: »Für mich war einfach das reine, nackte, von allem unbeeinflusste Subjekt wichtig, das da steht und was zu sehen versucht.«
Neben dem Visuellen spielt hier auch Akustisches eine Rolle. Aufgesucht werden Orte, wo ein Takt vorgegeben wird. Dass sich die Dichtung aber keineswegs in der musikalischen und rhythmisierenden Potenz der Wörter erschöpft, weiß und demonstriert Roloff: Der wiederkehrenden Rhythmik des Alltags setzt er nicht selten eine atonale Dichtweise entgegen, die nicht einmal vor Silben Halt macht, durch die aber der klangliche Ausdruck der Wörter ungehindert wildwuchern kann.
In Roloffs Dichtung finden sich auch Stellen und Bilder, die sich jeglichen Erklärungsmechanismen versperren, weil sie rätselhafte Zeugnisse einer extrem sensiblen lyrischen Zartheit sind: »terrassen unterm wabenlicht unendlich / weit herabgezogene stunde der imker // und mein versuch mich zu zählen«.
Sind es die Dichter, die hier als Imker bezeichnet werden, deren Aufgabe in der Haltung und der Vermehrung von Bienen und in der Produktion von Honig besteht? Sicher ist, dass die Dichtung der Honig der Dichter ist, und während die Imker sich mit der Haltung von Bienen beschäftigen, sind die Dichter um die Erhaltung von Sprache bemüht.
Wer im Spannungsfeld zwischen Atonalität und Melodik eine solche poetische Tiefe erreicht, darf sein lyrisches Ich zu Recht behaupten lassen: »licht braucht augen wie meine.«
Marcus Roloff: reinzeichnung. Gedichte. Wunderhorn Verlag, 80. S., br., 17.80 €.
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