Rauch ist lebensgefährlich

Menschen reagieren bei Katastrophen realistisch, wenn sie gut informiert sind

  • Christa Schaffmann
  • Lesedauer: 5 Min.
Was Menschen in Ausnahmesituationen tun, ist nicht immer voraussehbar. Untersuchungen zufolge sind sie aber weniger von Panik getrieben, als man es annimmt.

Hand aufs Herz: Kennen Sie die Fluchtwege in Ihrem bevorzugten Kaufhaus? Schauen Sie auf Reisen in Hotels auf die Fluchtpläne und prüfen Sie, ob der Weg aus dem Fenster im Notfall eine Option ist? Haben Sie eine Idee, wie Sie sich bei einem Brand im Kino oder in der U-Bahn verhalten würden? Vermutlich nicht.

Wer shoppen geht, Urlaub macht, einen Film anschauen oder einfach von A nach B fahren will, denkt in der Regel nicht zuerst an Sicherheit. Architekten, Brandschutzspezialisten und andere Berufsgruppen sind dafür zuständig, dass durch Infrastruktur und eine ganze Reihe von Maßnahmen optimale Sicherheitsbedingungen im Katastrophenfall existieren. Das hat der Gesetzgeber geregelt - für Verwaltungsgebäude genauso wie für Industriebetriebe und Versammlungsstätten. Zu dumm, dass bei all diesen Ereignissen der Faktor Mensch eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Er ist nicht berechenbar, wie zum Beispiel die Durchlassfähigkeit eines Ganges oder die Anzahl und Größe von Fluchtwegen im Verhältnis zu der im Notfall zu evakuierenden Personenzahl steht. Und so entstand eine ganze Reihe von (Fehl)Annahmen über das Verhalten von Menschen in Ausnahmesituationen. Manche dieser »Mythen« werden auch von Angehörigen der Feuerwehr und der Polizei geglaubt oder nicht hinterfragt, obwohl empirische Forschung sie längst widerlegt haben.

Die Psychologin Dr. Gesine Hofinger nennt als Beispiele vier dieser »Mythen«, die Menschen im Ernstfall durchaus das Leben kosten können: Mythos 1: Alarme werden automatisch gehört, verstanden und ernstgenommen. Mythos 2: Menschen nutzen alle zur Verfügung stehenden Ausgänge und Notausgänge. Mythos 3: Menschen laufen nicht durch Rauch. Mythos 4: In Fluchtsituationen tritt gewöhnlich Panik auf. »All das ist nicht wahr. Alarme werden durchaus auch überhört und noch öfter nicht ernst genommen oder auf sich bezogen«, so Gesine Hofinger. Sie hat selbst Dozenten an der Universität erlebt, die bei einer Übung noch schnell die letzten zehn Minuten Vorlesung über die Bühne bringen wollten, bevor sie endlich mit den Studenten dem Feueralarm Folge leisteten. Untersuchungen belegen, dass die meisten Menschen - egal ob sie mehrere Ausgänge kennen oder nicht - bevorzugt zu dem Ausgang streben, durch den sie ein Gebäude betreten haben. Sie tun dies ungeachtet dessen, dass dieser womöglich weiter weg und im schlimmsten Fall nur unter großer Gefahr passierbar ist. Auch Rauch wird Studien zufolge nicht ernst genommen. Menschen meinen, mit einem Tuch vor dem Mund oder wenn sie nicht atmen, lasse sich Rauch ganz gut durchqueren. »Dass Rauch sehr rasch zur Ohnmacht führt, dass er giftig und sehr heiß ist, wird oft völlig unterschätzt«, sagt die Psychologin.

Besonders gravierend ist aus Sicht von Gesine Hofinger der Panik-Mythos. »Studien in verschiedenen Ländern zeigen übereinstimmend, dass 70 Prozent der Menschen bei einem Notfallereignis, selbst bei größeren Katastrophen, eher ruhig bleiben. 10 bis 15 Prozent laufen sogar zu Hochform auf und übernehmen Führungsaufgaben und Verantwortung für andere Personen, nur ein kleiner Teil wird handlungsunfähig. Die meisten brauchen - so haben Untersuchungen ergeben - zwar mehr Führung, leisten dem Führungspersonal Folge, sind aber nicht panisch.« Dass Menschen von der »Costa Concordia« ins Meer gesprungen und zum Ufer geschwommen sind, wurde als Panik-Reaktion beschrieben, ist aber, so Hofinger, für jemanden, der schwimmen kann, eine durchaus nachvollziehbare Reaktion. Wenn Menschen in einem Stadion gegen Gitter gedrückt, verletzt werden oder sterben, wie 96 Liverpool-Fans 1989 im britischen Hillsborough, dann ist das nicht das Ergebnis von Panik, sondern von falscher Planung und falschen Anweisungen der Verantwortlichen. Nach 27 Jahren hat das jetzt auch ein Gericht eingeräumt. Bleibt zu hoffen, dass auch Journalisten sich von dem Mythos Panik verabschieden und künftig seltener den in über 90 Prozent der Fälle unzutreffenden Begriff Massenpanik verwenden.

Hofinger kritisiert das Menschenbild, das hinter diesem Panik-Mythos steckt. Es führe dazu, dass Verantwortliche den Betroffenen zu wenig zutrauen, ihnen womöglich wichtige Informationen vorenthalten oder die Opfer im Nachhinein für eine in Wahrheit durch eigene Fehlplanung oder eigenes Fehlverhalten in der Notsituation entstandene Eskalation verantwortlich machen. Sie verweist zum Beispiel auf Sicherheitsdurchsagen wie »Achtung, Achtung, verlassen Sie aus Sicherheitsgründen den Flughafen« oder »Achtung, Achtung, verlassen Sie aus Sicherheitsgründen das Kaufhaus unverzüglich«. Durchsagen wie diese erfolgen in der Regel in einem Tonfall, der auch für die Aufforderung, sich im neuen Kaufhaus-Café doch eine Pause zu gönnen, taugen würde. Die Verantwortlichen begründen diese keine Dringlichkeit erzeugende Durchsage damit, dass sie keine Panik bei den Kunden auslösen wollen, in deren Folge es eventuell zu Unfällen käme, für die das Kaufhaus später womöglich haften soll. Gesine Hofinger und ihr Team aus Psychologen und Sozialwissenschaftlern, die alle in Forschungsprojekte unter anderem zum Verhalten von Menschen in Gefahrensituationen eingebunden sind, versuchen, diesen Mythen aus Sicht der Forschung und der Praxis entgegenzutreten und setzen sich für eine stärkere Berücksichtigung des Faktors Mensch in der Planung für Notfälle und Katastrophen ein. Sie geben ihre Erkenntnisse an Personal aus den Bereichen Krisenmanagement und Notfallversorgung weiter. Das geschieht in Trainings, bei Übungen und in Publikationen. Sie bilden Krisenstäbe aus, arbeiten viel mit Polizei und Feuerwehr, aber auch mit Unternehmen und Verwaltungen zusammen.

Es gebe bereits viele Broschüren, Flyer, Webseiten, die aufklären, aber »wir können nicht sicher sein, dass sie gelesen und beherzigt werden«. Umso mehr begrüßt Hofinger, wenn Einsatzkräfte der Feuerwehr in Kindergärten und Schulen gehen und etwa Aufklärung über die Gefährlichkeit von Rauch leisten. 80 Millionen Bürger ließen sich im Direktkontakt natürlich nicht aufklären. »Aber warum klappt in Flugzeugen, was zum Beispiel in der U-Bahn auf Monitoren oder im Kino auf der Leinwand bisher nicht geschieht: man verweist bei jedem einzelnen Flug kurz auf Notausgänge und andere Maßnahmen, obwohl Millionen Passagiere das alles schon oft gehört haben. Warum gibt es im Fernsehen keine Spots zum richtigen Verhalten bei Bränden, so wie vor Jahren mit dem «7. Sinn» zum richtigen Verhalten im Verkehr?« Angesichts von rund 600 Todesopfern bei 200 000 Bränden (Quelle: Stiftung Warentest) pro Jahr allein in Deutschland gibt es offenbar genug zu tun.

Beim Landestag der Psychologie in Stuttgart am 9. Juli im SpOrt Stuttgart wird »Der Faktor Mensch in Katastrophensituationen« ein Thema sein. Infos unter www.bdp-bw.de/aktuell/2016/2016_ltp_ausfuehrlich.html

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