Entpolitisiert und nett

Christof Loys Interpretation von Alban Bergs Oper »Wozzeck« in Frankfurt am Main

  • Emanuel Kapfinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Er ist sozialer Ausschuss: rechtlos und ohne jeden Besitz. Bei den letzten Drecksarbeiten muss er sich verdingen, und erntet auch dafür nur Gespött. Nur eines hat er: seine Marie und ihr gemeinsames Kind. Doch schließlich wird ihm auch diese Liebe genommen, für die er so viele Opfer gebracht hat. Marie geht zu einem anderen. Das ist ein Schlag und ein Schmerz, den auszuhalten ihm nicht möglich ist. Er bringt sie um.

Alban Berg hat das Büchnersche Drama in der ersten atonalen Oper, einem Meilenstein der Musikgeschichte, vertont. Die »realistische Härte und Präzision« (Ernst Bloch) seiner Musik führt Wozzecks seelisches Chaos ebenso wie die Gemeinheiten der »guten Gesellschaft« zu einer Kenntlichkeit, wie sie selten eine Musik erreicht hat. In der Oper Frankfurt haben Christof Loy (Regie) und Sebastian Weigle (musikalische Leitung) Bergs »Wozzeck« nun neu interpretiert. Die Inszenierung richtet ihr Augenmerk auf das zerrissene Innenleben des Protagonisten, lässt jedoch das Potenzial für sozialkritische Erfahrung, die die Vorlage bietet, so gut wie ungenutzt.

In ihr wird der Wahn des Protagonisten sehr intensiv nachvollziehbar. Audun Iversen, die wunderbar spielende Wozzeck-Besetzung, läuft unruhig umher, während die anderen Figuren eher statisch bleiben. Er drückt sein Gesicht gegen die Wand. Aus seinem Blick spricht der Wahn. Kahle Räume mit hohen Decken und bloß symbolischer Kulisse, zuweilen auch nur der herabgelassene, schwarze Vorhang, geben ihm die Bühne, auf der sein expressives Spiel zur rechten Geltung heraustreten kann. Ebenso passend hierzu ist die dezent umgesetzte Musik, die sich nur in Momenten der emotionalen Zuspitzung in den Vordergrund drängt. Trotz dieser Qualitäten psychologisiert die Inszenierung den Wahn, und rührt nicht an den radikalen Abgrund einer - für Wozzeck - verrückten Realität.

Gegenüber der Vorlage hat der Regisseur, wie er im ersten Satz seines Begleittextes betont, die soziale Frage ausgeklammert. Wozzeck ist kein Soldat mehr, sondern trägt Jeans und T-Shirt. Auch Andres und das Wirtshauspublikum sind in Kleidung und Gestik nicht mehr proletarisch, sondern normale, bloß etwas schlecht situierte Mitbürger. Das hier gebotene Bild der Gesellschaft ist gegenüber Büchner deutlich entpolitisiert. Statt des grundsätzlichen sozialen Ausschlusses sieht man nur eine Gesellschaft, zu der alle irgendwie dazugehören. Soziale Ausgrenzung ist in Loys Inszenierung zu einem bloß individuellen Schicksal geworden.

Unstimmig ist diese Aktualisierung schon allein deshalb, weil Doktor und Hauptmann einen altertümelnd-spießigen Typus verkörpern, und Marie, in Kontrast zum eigentlich ja gleich schlecht situierten Wozzeck, ein leuchtend rotes Abendkleid trägt. Keine Sorge, so möchte man der Inszenierung in den Mund legen, obwohl wir in Wozzeck das Klischeebild des »Hartz-IV-Empfängers« auf die Bühne geholt haben, können wir in der Oper weiterhin eine arrivierte, wohlhabende Gesellschaft zeigen.

Ebenso wenig ist noch von der Büchnerschen Kälte zu spüren, wenn der Doktor die Seelenqualen Wozzecks zu einem wissenschaftlich interessanten Phänomen erklärt. Die abstrusen klinischen Kategorien des Doktors erscheinen nur als weltfremd und ulkig. Der Doktor lächelt selbstgefällig und belustigt bricht das Publikum in Kichern aus.

Loys Interpretation nimmt der Vorlage ihre existenzielle wie ihre gesellschaftliche Radikalität, und damit den Kern dessen, was uns der »Wozzeck« immer noch als quälende Frage aufgibt. Auch verliert sie sich in manchen Elementen zu einem uninspirierten und nichtssagenden Spiel. Doch schwingt sie sich immer wieder zu Momenten großer Intensität auf, gerade da, wo das hervorragende Orchester im Mittelpunkt steht, Momente, die für die schwächeren Szenen mehr als entschädigen.

Das Finale von Bergs Oper zeigt die Vereinsamung von Maries Knaben nach deren Tod, und spiegelt darin die Vereinsamung Wozzecks wider. Als die Nachricht vom Tod Maries kommt, laufen seine Spielgefährten aufgeregt zum Leichnam. Während ihnen aber bei Berg der Knabe nach kurzem Zögern nachläuft, hält ihm in Loys Inszenierung ein gütiger Kindergärtner die Augen zu. Er soll den Tod seiner Mutter nicht sehen.

Die kalte und paranoide Welt Büchners und Bergs, ihre von Gewalt und Entfremdung durchherrschten Beziehungen nicht zu sehen: Das könnte glatt als das Motto des Frankfurter »Wozzeck« durchgehen.

Nächste Vorstellung: 13. Juli

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