Mit Comics alt werden

Der Berliner Verlag Reprodukt hat zwei Bände aus der epischen Comicreihe »Love and Rockets« herausgebracht

  • Waldemar Kesler
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Reprodukt-Verlag hat für die deutsche Independent-Comicszene eine ähnlich große Bedeutung wie die Reihe »Love and Rockets« der Gebrüder Hernandez für die US-amerikanische. Deshalb ist es angemessen, dass Reprodukt zur Feier seines 25-jährigen Bestehens zwei Bände aus dem Erzähluniversum von »Love and Rockets« veröffentlicht. »Der Tod von Speedy« aus dem Jahr 1989 war der erste von dem Verlag publizierte Band. Der Titel ist allerdings seit etlichen Jahren vergriffen. »Liebe und Versagen« kam 2014 heraus und ist der finale Akt einer Liebesgeschichte, die bereits in »Der Tod von Speedy« gärt. Dass zwischen diesen beiden Teilen genau 25 Jahre liegen, ist natürlich für den Verlag ein besonderer Clou.

Die Reihe der »Love and Rockets«-Comics wächst seit den achtziger Jahren bis heute. Sie bestehen aus mehreren Haupt- und Nebenerzählsträngen, einzelnen Kurz- und Witzgeschichten oder auch surrealen Einschüben, in denen der magische Realismus, die Punk-Szene, die Latino-Kultur, B- und Exploitation Movies und manchmal auch der gefühlsduselige, überzogene Erzählton von Seifenopern miteinander vermengt sind.

1981, als der erste Teil erschien, herrschte in der Independent-Comicszene ein Vakuum. Die seit den Sechzigern blühenden Underground-Comics der Gegenkultur rund um Robert Crumb hatten seit Mitte der Siebziger an Relevanz verloren. Der Markt wurde, quasi ohne Gegengewicht, von den Superheldengeschichten der Großunternehmen Marvel und DC beherrscht. Die aus Kalifornien stammenden Brüder Jaime, Gilbert und Mario Hernandez boten ihr billigst hergestelltes Heft auf Comicbörsen für einen Dollar feil. Als es so die Runde machte, fiel es Gary Groth in die Hände, dem Gründer des wichtigsten US-amerikanischen Alternative-Verlags Fantagraphics. Er war so angetan, dass die verschiedenen »Love and Rockets«-Reihen seit 1982 dort erscheinen.

Man kann die Bedeutung von »Love and Rockets« nur im Rückblick verstehen, da vieles, was spätere Leser an Comics liebten, das erste Mal darin zu sehen war: komplexe Beziehungskonstellationen, lebendige Subkulturen oder emotionale Bürden wie die Teenager-Angst. Während der Underground sich in den Sechzigern und Siebzigern an der Darstellung von allem weidete, was in der sogenannten Hochkultur weitestgehend unter den Teppich gekehrt wurde - Drogen, Sex, Gewalt und Perversion -, widmete sich »Love and Rockets« einer Vielfalt von Subkulturen und Figuren, die bislang so noch nie zu sehen gewesen waren: ein smartes und selbstbewusstes Mädchen, das in einer Werkstatt arbeitet, ein Kunststudent, der nicht von seinem Heimatkaff loskommt, eine matronenhafte Catcherin oder Gangs, die sich in sinnlosen Scharmützeln aufreiben. Und da gibt es die für die Machokultur der Latinos unerhörte, immer wieder unterbrochene Liebesgeschichte zwischen Jaime Hernandez’ Heldin Margarita »Maggie« Chascarrillo und ihrer görenhaften Freundin Hopey. Maggie ist vielleicht der stärkste und authentischste weibliche Charakter, der überhaupt in einem Comic zu finden ist. In einem Interview sagte Jaime Hernandez, dass sie zwischen der mexikanischen und US-amerikanischen Identität pendelt und keine Seite befriedigen könne. Diese unsichere Zugehörigkeit verwandelt sie in trotzige Selbstbehauptung.

Anders als in Mainstream-Comics, in denen die Figuren in einem zeitlosen Paralleluniversum leben, in dem ihnen nichts etwas anhaben kann, altern Maggie und ihre Entourage im Laufe der Jahre mehr oder weniger würdevoll, wodurch sich die Leser stärker mit ihnen identifizieren können.

Das Wechselspiel zwischen verschiedenen Erzählungen, Referenzen und Rückblenden lässt »Der Tod von Speedy« beim Einstieg ein wenig sperrig erscheinen. Umso überraschender ist es, wie schnell dieser Eindruck bei einem ziemlich reichen Figurenarsenal verfliegt. Jaime Hernandez lässt seine Leser nach relativ wenigen Seiten in die Atmosphäre seiner kalifornischen Fantasiestadt Hoppers, auch Locas genannt, versinken.

Seine schwarz-weißen Zeichnungen changieren zwischen Realismus und comictypischen Überzeichnungen von Emotionen. Auf den Köpfen glänzen Angstschweißperlen, die Figuren sehen vor Schmerz Sternchen oder Ärger anzeigender Dampf entweicht aus ihnen. Ihre Gesichter verformen sich in extremen Stimmungslagen. So einfach dieses Stilmittel, Realität pointiert mit Überzeichnung zu vermischen, auch zu sein scheint, es kommt dem natürlichen Bedürfnis von Lesern entgegen, zu sehen, wie die Realität sich anfühlt.

»Love and Rockets« war und ist eines der berührendsten und einflussreichsten Comic-Epen, ohne das das ganze Medium heute wesentlich uninteressanter wäre. Die zwei jetzt erschienenen Bände lassen zwar nur einen Schlüssellochblick in dieses Universum zu, aber der sollte ausreichen, um die Neugierde darauf anzufachen. Und bei der Masse von dreißig Jahren Comicgeschichte muss man ja irgendwo anfangen.

Jaime Hernandez: »Der Tod von Speedy« (übersetzt von Oliver Köll), 128 S., und »Liebe und Versagen« (Übersetzung: Conny Lösch), 112 S., beide erschienen bei Reprodukt, je 24 €.

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