Verstärker für den Süden
Das Weltsozialforum in Montréal möchte vernachlässigten Stimmen Gehör verschaffen
Der Seminarraum an der McGill Universität in Montréal ist bis auf den letzten Platz besetzt und Michelle Chen in ihrem Element: »The medium is the message!«, ruft die Community-Radio-Aktivistin vom Asia-Pacific-Forum aus New York zum Abschluss ihres Beitrags während des Workshops »Amplify the South«. Im Mittelpunkt der im Rahmen des diesjährigen Weltsozialforums vom New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten Veranstaltung steht die Frage, wie die Stimmen des Südens in die Medien des Nordens gelangen können. Michelle Chen erklärt, dass Community-Radio zur Stärkung der asiatisch-amerikanischen Diaspora und ihrer Verbindungen beispielsweise mit der Bewegung für Klimagerechtigkeit auf den Philippinen beitragen kann.
Das Hauptexportprodukt der Philippinen ist Arbeitskraft. Insbesondere im Gesundheitsbereich arbeiten Philippininnen in der ganzen Welt. Doch wie hängt die Frage der mobilen Arbeit mit der Frage der Klimagerechtigkeit zusammen? In den vergangenen Jahren haben aufgrund des Klimawandels die Taifune auf den Philippinen stark zugenommen. Dabei werden nicht nur viele Menschen verletzt oder finden den Tod, sondern es werden auch ganze Landstriche verwüstet.
Die philippinischen Krankenschwestern, die in den Arabischen Emiraten, in Singapur oder in Nordamerika arbeiten, sind zwar diejenigen, so Chen, »die dann viel Geld für humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau schicken können, aber es fehlt einfach Pflegepersonal vor Ort.«
Die panasiatische Radioshow Asia-Pacific-Forum, die einmal in der Woche aus New York im Internetradio ausgestrahlt wird und so weltweit empfangen werden kann, macht diese Probleme und Kämpfe zum Thema. Community-Radio kann damit einen, wie Chen sagt, »progressiven« transnationalen Raum der politischen und sozialökologischen Bewusstseinsbildung, Organisierung und Vernetzung schaffen.
Verstärker für den Süden wie das Asia-Pacific-Forum werden auf dem diesjährigen WSF in Montréal, das damit erstmals in einem Land des Nordens stattfindet, auch dringend gebraucht. Denn Aktivisten/innen aus Afrika, Lateinamerika und Asien sind selbst kaum anwesend. Der Auftaktmarsch am Dienstagabend, an dem etwa 10 000 Menschen teilnahmen, ließ die großen Delegationen aus Brasilien, Mexiko, Westafrika oder Indien vermissen.
In Tunis hatten zahlreiche Organisationen aus dem Globalen Süden die Entscheidung des Internationalen Rates scharf kritisiert, das WSF 2016 in Montréal auszurichten. Man befürchtete, dass viele Teilnehmer/innen kein Visum für Kanada erhalten würden. Und tatsächlich hat, einer Erklärung der Mayfirst-Bewegung zufolge, die kanadische Regierung 70 Prozent der Visaanträge von WSF-Teilnehmer/innen aus den Ländern des Südens zurückgewiesen. Mindestens 230 Menschen, unter ihnen allein 20 Mayfirst-Aktivist/innen, vor allem aus dem sub-saharischen Afrika, aber auch aus Iran, aus Nepal, Zentralamerika und Haiti, soll die Einreise verweigert worden sein.
Bilal Al-Jouhari, Mitarbeiter der marokkanischen Menschenrechtsorganisation GADEM, weiß ähnliches zu berichten: »Keiner der zehn Vertreter/innen der Selbstorganisationen der sub-saharischen Transitmigranten/innen in Marokko, die zum WSF kommen wollten, hat ein Visum erhalten«. Vergangenes Jahr in Tunis waren es vor allem die vielen migrantischen Aktivisten/innen aus Europa, aus Nord- und Westafrika und sogar aus Mexiko und Zentralamerika, die sich das bereits seit Jahren kriselnde WSF angeeignet und mit neuem Leben gefüllt hatten.
Ähnlich wie 2011 während des WSF im senegalischen Dakar, entstand in der bröckelnden Legitimität und Struktur des WSF etwas Neues und Unerwartetes: Ein Ort, an dem Flüchtlinge, Migranten/innen und ihre Unterstützer/innen sich vernetzen, Wissen über Routen und Gefahren der Migration austauschen, sowie über mögliche gemeinsame Strategien gegen die tödlichen Folgen der europäischen und nordamerikanischen Abschottungspolitik sprechen konnten. An diese Ansätze, das WSF für neue globale soziale Kämpfe, wie für die »Freedom of Movement« und »No-Border« Bewegungen zu öffnen, kann in Montréal nun aufgrund der restriktiven Einreisebestimmungen der kanadischen Behörden nicht angeknüpft werden.
Die kanadischen Organisatoren/innen hatten bis zu 50 000 Teilnehmer/innen erwartet, doch bis Mittwochvormittag, als die mehr als 1000 angemeldeten Veranstaltungen begannen, waren erst 14 000 Personen registriert – ein Zehntel der Menschen, die zu den ersten Weltsozialforen nach Brasilien gekommen waren. Immerhin: Sehr stark vertreten sind dieses Mal Bewegungen und Organisationen für Klimagerechtigkeit und Ressourcenschutz.
Die große Abendveranstaltung zum Thema mit Naomi Klein am Donnerstagabend war mit mehr als 700 Teilnehmer/innen voll und hunderte Interessierte konnten nicht mehr eingelassen werden. Die kanadischen Organisatoren des WSF, wie Roger Rashi vom NGO-Netzwerk Alternatives, hoffen daher, dass während des WSF zumindest ein linker Fokus auf die sozialen Dimensionen von Umweltkonflikten geschärft wird. Aktivisten/innen wie Michelle Chen machen es schon mal vor …
Unsere Autorin ist Referentin ür Internationale Politik und Soziale Bewegungen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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