»100 Euro sind in Afrika jede Menge Geld«
Die ugandische Anwältin Winnie Adukule über politische und wirtschaftliche Fluchtursachen sowie die EU-Politik
Aus europäischer Perspektive hat sich die Flüchtlingskrise in den vergangenen zwei Jahren verschärft, die Zahl der in die EU drängenden Menschen hat zugenommen, in Deutschland kamen 2015 über eine Million Flüchtlinge an. Seit die Balkanroute dicht ist, sterben wieder mehr Menschen auf dem Mittelmeer: Nach Erkenntnissen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind 2016 deutlich mehr Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen als im selben Zeitraum der Vorjahre - mindestens 2977 Menschen allein bis zum 30. Juli. Wie stellt sich die Flüchtlingskrise aus afrikanischer Perspektive dar?
Ähnlich. Allein Uganda hat im ersten Halbjahr eine halbe Million Flüchtlinge aus dem benachbarten Südsudan aufgenommen, wo Bürgerkrieg herrscht. Das ist eine gewaltige Zahl, die in Europa kaum bekannt ist. Zum Vergleich: Uganda hat knapp 40 Millionen Einwohner und das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 626 US-Dollar im Jahr! Trotzdem beherbergen wir rund 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Nachbarstaaten, die von Kriegen und Krisen heimgesucht werden oder wurden, neben Südsudan zum Beispiel Ruanda, Burundi, die Demokratische Republik Kongo und auch ein paar aus Tansania.
Lassen sich die Ursachen der Konflikte in den Ländern rund um Uganda kurz benennen?
Ja. Es sind größtenteils ethnische Auseinandersetzungen wie die zwischen Tutsi und Hutu in Ruanda und Burundi, die noch aus kolonialer Zeit herrühren. Dort hat sich der koloniale Einfluss quasi fortgeschrieben. In der DR Kongo ist es ein wenig anders gelagert: Es ist ein riesiges Land mit enormen Rohstoffvorkommen, die umkämpft sind. Die Regierung in Kinshasa hat keine Kontrolle darüber, was in den Minen Ostkongos vor sich geht. Dann gibt es Grenzkonflikte besonders zwischen Ruanda und der DR Kongo. Ruanda versucht Gebiete in der DR Kongo zu kontrollieren und die DR Kongo wehrt sich dagegen. Solange die regierenden Politiker sich nicht um Ausgleich bemühen, gehen die Konflikte weiter.
Winfred »Winnie« Adukule ist eine ugandische Menschenrechtsanwältin. Im Auftrag der ugandischen Regierung arbeitete sie eine Zeit lang für UNODC, eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe der UNO zur Verbrechensbekämpfung. Seit 2013 führt sie eine Rechtsanwaltskanzlei in Kampala. In ihrem Buch »Flucht – Was Afrikaner außer Landes treibt« (Das Neue Berlin, 14,99 Euro) kommen Flüchtlinge zu Wort.
Was sind neben diesen Konflikten zentrale Fluchtgründe?
Zum Beispiel Korruption. Wenn Sie auf den Index von Transparency International schauen, wird das deutlich. Ich beschränke mich auf Ostafrika: Ruanda macht einen guten Job, liegt an 44. Stelle, alle anderen weit dahinter von Uganda an 139 bis Burundi auf 150 von 167 aufgeführten Staaten mit Somalia als Schlusslicht. In Uganda gibt es zwar inzwischen exzellente Anti-Korruptionsgesetze, aber die Umsetzung ist eine Herausforderung. Das frustriert die Menschen und raubt ihnen den Glauben an eine Perspektive.
Wie steht es um fehlende wirtschaftliche Möglichkeiten?
Fraglos ein großes Problem. Wir haben so gut wie keine Industrie, wir haben so gut wie nichts zum Exportieren. Den Anforderungen, die die EU für Importe stellt, werden wir nicht gerecht. Wenn in Uganda die wirtschaftlichen Perspektiven verbaut sind, bringt das manch einen auf die Idee, sein Heil woanders zu suchen. Und so machen sich viele auf den Weg nach Europa. Europa ist im Gegensatz zu vielen afrikanischen Ländern stabil, das ist der Hauptgrund. Dort gibt es demokratische Strukturen, ein funktionierendes Gesundheits- und Bildungssystem, davon können viele hier in Afrika nur träumen.
Machen sich auch immer mehr Ugander auf den Weg, obwohl Uganda vergleichsweise stabil ist?
Schwer zu sagen. Insgesamt ist meine Wahrnehmung, dass vor allem die Zahl der Flüchtlinge aus wirtschaftlichen Gründen aus Subsahara-Afrika zunehmen wird. Aber man muss sich jedes Land genau anschauen, oft gibt es auch politische und wirtschaftliche Gründe, die zur Flucht bewegen. Viele Flüchtlinge aus den Subsahara-Staaten kommen illegal nach Europa, sind nicht registriert, sodass es zu ihnen weniger genaue Zahlen gibt als zu den nordafrikanischen Ländern am Mittelmeer. Aber der Trend ist aus meiner Sicht eindeutig: Es machen sich mehr Menschen auf den Weg nach Europa.
In Ihrem Buch »Flucht« kommen afrikanische Flüchtlinge zu Wort. Als Traumziel in Europa nennen viele Deutschland. Warum ist Deutschland so populär und nicht zum Beispiel Großbritannien mit seiner für viele Afrikaner geringeren Sprachbarriere?
Für Deutschland und gegen Großbritannien spricht ein einfacher Grund: Großbritannien gehört dem Schengen-Abkommen nicht an. Der Wegfall der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen im Schengen-Raum erhöht die Bewegungsfreiheit auch für Flüchtlinge, innerhalb von Schengen können sie sich relativ frei bewegen. Ist man drin, hat man es geschafft und das Wohlfahrtssystem ist gut: Die Grundversorgung ist gesichert. Dass das in Deutschland der Fall ist, ist in Afrika bekannt, zum Beispiel über die Informationen im Internet und über bereits in Deutschland lebende Flüchtlinge durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Deswegen ist Deutschland für viele das Wunschziel.
Der Kenntnisstand scheint aber teils gering. Ein Kleinbauern-Flüchtling geht im Buch davon aus, dass er mit einem Stück Land à la Afrika auch in Deutschland Subsistenzlandwirtschaft betreiben könne. Auch über das Wetter in Deutschland herrschen teils kuriose Vorstellungen.
Wahrnehmungen sind eine gefährliche Sache: Sie können jede Richtung einschlagen. Und klar ist auch: Das, was afrikanische Flüchtlinge aus Europa in die alte Heimat berichten, hat oft mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun. Wenn sie in Europa auf der Straße leben, werden sie das kaum nach Hause berichten, sondern schönfärben. Wenn jemand 500 Euro im Monat netto verdient und davon 100 Euro nach Afrika sendet, dann ist das dort jede Menge Geld, das falsche Vorstellungen über Europa weckt. Von 100 Euro ernährt sich in Afrika eine Familie mindestens einen Monat. Wenn ein Foto nach Afrika geschickt wird, dann ein Selfie von Unter den Linden mit Autos im Hintergrund und nicht eins von Obdachlosen auf der Straße. Daraus entsteht in Afrika die Frage: Wenn man es gut haben kann, warum habe ich es dann nicht gut? Das motiviert nach Europa zu kommen. Die Realität sieht dann ganz anders aus.
Wie bewerten Sie die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union und speziell die Deutschlands? Die Balkanroute ist längst wieder dicht, weil sich die EU-Staaten nicht auf eine solidarische Verteilung einigen konnten.
Die EU-Politik ist ein Resultat des unterschiedlichen Verständnisses der verschiedenen Mitgliedstaaten. Das macht eine gemeinsame Politik schwierig. Die Unterschiede zum Beispiel beim Pro-Kopf-Einkommen sind groß, Deutschland lässt sich schwer mit Griechenland vergleichen, Griechenland schwer mit Frankreich und so weiter ... Was ich mir gewünscht hätte, wäre, dass alle EU-Staaten der EU-Kommission ihre spezifische Aufnahmekapazität gemeldet hätten, statt wie Ungarn einfach dichtzumachen und die Flüchtlinge zurückzuschicken. So wird kein Problem gelöst, es müssen die Ursachen der Flüchtlingskrise angegangen werden. Bis dahin sollten die Flüchtlinge in der EU verteilt werden; wenn die Krisen gelöst sind, sollten sie in ihre Heimatländer zurückkehren.
Und die deutsche Flüchtlingspolitik? Die Flüchtlinge könnten schlicht nach Pro-Kopf-Einkommen und Bevölkerungszahl auf die 28 EU-Staaten aufgeteilt werden. Mit politischem Willen gäbe es eine Lösung, mathematisch ist sie trivial.
Das stimmt, aber die Situation ist sehr delikat. Einerseits haben alle die UN-Konventionen zu den Menschenrechten unterzeichnet und haben deswegen eine Verpflichtung. Die Frage ist allerdings, wie zwischen der Verpflichtung und der Fähigkeit, Flüchtlinge aufzunehmen, austariert werden kann. In Deutschland gibt es einen großen politischen Willen, zu helfen, bei allen im Bundestag vertretenen Parteien. Aber sie stellen sich die Frage, wie sie das einer wegen der hohen Ausgaben und der hohen Aufnahmezahl grummelnden Bevölkerung vermitteln. Das ist nicht einfach. Im EU-Vergleich macht Deutschland einen guten Job, vor allem was die Aufnahme der syrischen Flüchtlinge angeht.
Die Bundesregierung hat ihren Kurs der Aufnahmebereitschaft vom vergangenen Sommer korrigiert und arbeitet an Gesetzesinitiativen, die die Abschiebung von straffällig gewordenen Asylsuchenden erleichtern soll. Das ist ein Widerspruch zur Genfer Menschenrechtskonvention von 1951, die das explizit verbietet. Was sagen Sie dazu?
Das ist in der Tat widersprüchlich. Wohin sollen sie denn abgeschoben werden? Wenn jemand aus dem Bürgerkrieg geflohen ist, wollen sie ihn denn dorthin zurückschicken? Die andere legale Alternative ist, sie in Drittstaaten abzuschieben, bei denen die Menschenrechte gewahrt sind. Das wird durchaus schon praktiziert. Kaum bekannt ist, dass derzeit Israel verstärkt afrikanische Flüchtlinge nach Uganda abschiebt. Das passiert stillschweigend, weil Uganda es akzeptiert.
Wie lässt sich die Flüchtlingskrise kurzfristig abmildern? Welche Sofortmaßnahmen müssten ergriffen werden?
Der Krieg in Syrien müsste in einer konzertierten Aktion unter Einbeziehung der UNO beendet werden.
Mit militärischen Mitteln?
Nicht nur. Man kann sehr viel ohne militärische Mittel tun. Es muss eine Verhandlungslösung geben, die USA und Russland konnten auch schon auf dem Verhandlungswege Waffenpausen erreichen. Es bedarf einer kombinierten Anstrengung. Solange der Krieg in Syrien andauert, wird auch die Flucht aus Syrien anhalten.
Und was muss sich generell langfristig ändern, damit sich nicht immer mehr Menschen aus Afrika auf den Weg machen?
Dafür bedarf es mehr Investitionen in Afrika. Das bedeutet aber auch Verpflichtung für die afrikanischen Länder: Sie müssen für Rechtssicherheit und Stabilität sorgen, damit Investoren überhaupt kommen. Investitionen schaffen Beschäftigung und Einkommen. Solange das nicht passiert, gibt es keine ökonomischen Perspektiven für die Mehrheit. Wenn zum Beispiel in die afrikanische Landwirtschaft investiert wird, gibt es keinen Grund mehr für afrikanische Kleinbauern, sich auf europäischen Plantagen in Südeuropa zu verdingen. Warum auch?
Braucht Afrikas Landwirtschaft neben Investitionen nicht auch andere Handelsbedingungen?
Sicher. Die EU muss ihren Markt für afrikanische Produkte stärker öffnen. Marktöffnung und Investitionen würden Afrika weiterhelfen und den Migrationsdruck senken.
Verhandelt werden derzeit die sogenannten Wirtschaftspartnerschaftsabkommen EPA zwischen der EU und afrikanischen Regionalzusammenschlüssen wie der Ostafrikanischen Gemeinschaft EAC, der Uganda angehört. Viele Entwicklungsökonomen sehen darin einen Ausverkauf Afrikas und afrikanischer Interessen. Wie sehen Sie diese Überlegungen für mehr Freihandel? Schon jetzt zerstören europäische Dumpingexporte von Hähnchenfleisch über Tomatenmark bis hin zu Milchpulver bäuerliche Existenzen in Afrika.
Das ist ein sehr egoistisches Verhalten der EU, da sie wissen, dass die afrikanischen Bauern nicht mithalten können. Die EU muss das ändern und den afrikanischen Ländern Einfuhrquoten einräumen, statt mit ihren Standards Protektionismus zu betreiben und Afrika mit Dumpingexporten zu überschwemmen. Sonst werden weiter Fluchtursachen geschaffen.
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