Lästig, das fühle ich

Der Marxismus sollte sein Verhältnis zu Schelling überdenken. Von Carsten Prien

  • Carsten Prien
  • Lesedauer: 8 Min.

Lästig, das fühle ich, muss ich wohl zum Teil sein. Man hatte mich untergebracht, ich war konstruiert, man wusste aufs Genauste, was an mir war. Nun soll man mit mir von vorn anfangen und einsehen, dass doch etwas in mir gewesen, von dem man nicht wusste.« Das sind Worte Friedrich Wilhelm Jospeh Schellings vom Beginn des Wintersemesters 1841/42.

Und sie treffen auch heute noch ins Schwarze. Noch heute gilt die Reihe Kant, Fichte, Schelling, Hegel zugleich inhaltlich als die Stufenfolge des deutschen Idealismus, auch für Marxisten. Die Zweiteilung Schellings in einen »frühen« und einen »späten« sollte dabei über die Verlegenheit hinweghelfen, dass Schelling noch zu Lebzeiten Hegels den absoluten Idealismus seines ehemaligen Freundes einer radikalen Kritik unterzogen hatte. Nach Hegels Tod dann hielt Schelling, von dessen verwaistem Berliner Katheder aus, Vorlesungen über die »Philosophie der Offenbarung«, in denen er den deutschen Idealismus auf seine Weise sowohl vollendete wie auch überwand.

Für die Trennung von Schellings Naturphilosophie einerseits und seiner vermeintlich reaktionär-restaurativen Philosophie seit der »Freiheitsschrift« von 1809 andererseits werden gerne Marx und Engels als Leumundszeugen genannt. Doch mit welchem Recht?

Als Engels seinen bekannten Verriss über die Berliner Vorlesungen Schellings verfasste, war er selbst noch glühender Hegelianer. Seine Kritik an Schelling gipfelt daher pikanterweise in dem Vorwurf des »Materialismus«. Marx seinerseits war noch Feuerbachianer, als er vom vielzitierten »aufrichtigen Jugendgedanken« Schellings sprach, der allein bewahrenswert wäre. Im selben Brief titulierte er Ludwig Feuerbach den »umgekehrten Schelling«. Bekanntlich mussten Marx und Engels sowohl Hegel als auch Feuerbach erst überwinden, um zum historischen Materialismus vorzustoßen. Ihr Haupteinwand gegen beide ist zugleich das zentrale Thema der Schellingschen Spätphilosophie: die wirkliche Geschichte.

Dessen ungeachtet wird im Marxismus die Zweiteilung Schellings kanonisiert und spätestens mit Georg Lukacs’ 1954 erschienenem Buch »Die Zerstörung der Vernunft« noch überboten. Darin denunziert Lukacs den alten Schelling als Wegbereiter des Irrationalismus in der imperialistischen Epoche, namentlich der faschistischen Ideologie.

Lukacs' geheime Absicht bei dieser Auftragsarbeit war es, Hegel gegenüber dem Stalin-Schdanowschen Verdikt zu verteidigen und für das Erbe des Marxismus zu retten. Schelling brachte er dafür als Bauernopfer dar.

Bemerkenswert ist, was Lukacs bei dieser Gelegenheit dem späten Schelling dennoch konzediert. Nicht nur folgt er dem Kern der Schellingschen Hegel-Kritik, wenn er zähneknirschend vermerkt: »Es ist klar, dass mit der Betonung, dass die Existenz aus dem Begriff nicht ableitbar ist, Schelling auch hier eine Schwäche des Hegelschen absoluten Idealismus berechtigt, wenn auch von rechts und darum mit reaktionären Entstellungen kritisiert.« Mehr noch: Lukacs fühlt sich genötigt zuzubilligen, Schelling habe geahnt, »dass in der Priorität des Seins vor dem Denken, in der Praxis als Kriterium der Theorie der Schlüssel zur Lösung dieser Problematik zu suchen war«.

Haarsträubend ist aber, was Lukacs diesen Zugeständnissen sich beeilt nachzuschicken: Schelling habe »nur darum treffende Äußerungen« gegen die »wirklichen idealistischen Schwächen der Hegelschen Philosophie« hervorgebracht, um von einer möglichen Entwicklung hin zum historischen Materialismus »abzulenken«.

Dank der bahnbrechenden Arbeiten der Philosophen Manfred Frank und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik sind heute die Übereinstimmungen zwischen der Hegel-Kritik des jungen Marx und der des alten Schelling von der Argumentationsfigur bis ins Wortwörtliche hinein akribisch belegt. Sachlich widerlegt ist heute auch die Mär von den zwei Schellings. Durch die Veröffentlichungen der letzten Jahre aus dem Nachlass, insbesondere des »Timaeus-Manuskripts« von 1794 und der »Urfassungen der Philosophie der Offenbarung« von 1831/32, ist die Kontinuität in der Entwicklung von Methode und Fragestellung offensichtlich und unleugbar geworden.

Doch auch schon Mitte der 1980er Jahre hatte der Schelling-Forscher und -Herausgeber Walter E. Ehrhardt in seinem Aufsatz »Die Naturphilosophie und die Philosophie der Offenbarung. Zur Kritik der materialistischen Schelling-Forschung« feststellen können: »Es scheint mir ganz unübersehbar, dass Schelling in der Behandlung der inneren Struktur der Offenbarung und ihrer geschichtlichen Differenzierung in der Dogmatik prinzipiell in der gleichen Weise argumentiert wie in der Philosophie der Natur.«

Ehrhardt kannte auch den Grund für die Ablehnung Schellings seitens der Junghegelianer und derer, die ihnen bis heute darin nachfolgen: »Dass Schelling nur über Mythologie und Offenbarung las, wurde Zielscheibe der Polemik, gegenüber der das Ziel, das gewollt ist, in diesen Arbeiten, ganz unbeachtet blieb.«

Die Polemik gegen Schelling gründet auf einem einfachen, aber folgenschweren Irrtum. Kein Gegenstand kann an sich dogmatisch oder irrational sein, sondern allein Art und Weise seiner theoretischen Behandlung. Schellings Ziel auch in diesen Arbeiten war »die wissenschaftliche, allgemeinüberzeugende Klarheit dunklen Abhängigkeiten entgegenzusetzen«, so Ehrhardt. Und weiter: »Das ›einfache Geheimnis‹ seines Verfahrens«, sei dabei die Voraussetzung gewesen, »dass auch in diesem Gebiet der Gegenstand keiner außer ihm selbst liegenden Voraussetzung bedürfe«.

Eine einzige einsame Ausnahme in der materialistischen Schelling-Rezeption bildet der »spekulative Materialismus« Ernst Blochs. Jürgen Habermas nannte ihn daher auch den »marxistischen Schelling«. Bloch sei der »einzige Marxist«, hebt Schmied-Kowarzik hervor, »der bei der Doppelperspektive des Naturprozesses und der Menschheitsgeschichte nicht stehen bleibt, sondern sich auch dem Problem des Absoluten stellt und damit in ganz besonderer Weise offen an den jungen und etwas verschämt an den alten Schelling anknüpft«.

»Die Nähe Blochs zu Schelling«, so Schmied-Kowarzik weiter, »ist faszinierend, aber in der argumentativen Durchführung bleibt Bloch in einer narrativen Umschreibung stecken, ohne die Scharnierprobleme klar zu benennen, geschweige denn zu einer differenzierten Konkretisierung des Natur- und Geschichtsprozesses voranzuschreiten.«

Uneingeholt klar benannt wurden die »Scharnierprobleme« eines 'dialektischen Idealismus im Übergang zum Materialismus in Habermas gleichlautender »Weltalter«-Studie von 1963. Die »Weltalter« sollten Wesen und Ursprung der geschichtlichen Zeit darlegen. Schelling arbeitete jahrelang an ihnen, ohne sie je in Druck zu geben.

Ärgerlich ist nur die Willkür, mit der Habermas auf dem Scheitelpunkt des von ihm nachgezeichneten Übergangs meint, bei Schellings »Weltaltern« die »theogonische Hülle vom historischen Prozess« trennen zu können. Es ist die gleiche Metapher von »mystischer Hülle« und »rationellem Kern«, die Marx wählte, um sein Verhältnis zur Hegelschen Dialektik zu bebildern. Sie ließ Generationen von Marxisten zurück, die ihrem verborgenen Sinn nachrätselten.

Sich davon zu überzeugen, wie untrennbar innig das Absolute und seine entäußernde Selbstoffenbarung mit Schellings Verständnis des »historischen Prozesses« verbunden ist, bietet die gerade jetzt erschienene Neuedition der »Stuttgarter Privatvorlesungen« Schellings beste Gelegenheit. Die zwischen Februar und Juni 1810 vor intimem Kreise im Hause des Oberjustizrates Georgii gehaltenen »Privatvorlesungen« hatte Karl Eberhard Schelling initiiert, um seinem Bruder aus der Trauer über den plötzlich Tod von dessen Frau Caroline herauszuhelfen.

Rückblickend schwärmt der Gastgeber: »Durch dieses Aufgreifen des rein Wesentlichen kam in das Ganze ein so klarer Zusammenhang, eine so auffallende Consequenz, daß man nun nicht mehr aufhören kann, die Sache im Auge zu behalten (...) Ich sagte ihm [Schelling] das, und er gestand mir selber, daß er so noch nie gelesen und einer solchen Klarheit noch nie fähig gewesen sey.«

Zu dem »rein Wesentlichen« gehört auch ein Abschnitt über den »Begriff der menschlichen Freiheit«, der den jungen Marx von dem Vorurteil hätte kurieren können, Kreatürlichkeit und Freiheit schlössen sich aus. »Ein Wesen gilt sich erst als selbständiges«, hatte Marx geschrieben, »sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines andern lebt, betrachtet sich als ein abhängiges Wesen. Ich lebe aber vollständig von der Gnade eines andern, wenn (...) er mein Leben geschaffen hat, wenn er der Quell meines Lebens ist, und mein Leben hat notwendig einen solchen Grund außer sich, wenn es nicht meine eigne Schöpfung ist.«

Schellings spekulative Rekonstruktion der Schöpfung aus den inneren Potenzen des Absoluten führt hingegen zu dem Schluss, dass die Schöpfung aus freiem Entschluss zugleich eine freie Schöpfung ist: »Von Seiten Gottes ist es nicht auf eine gezwungene Unterwerfung angesehen; er will König freier Geister sein. (...) Wäre nicht jedes ein Ganzes, sondern nur ein Teil des Ganzen, so wäre nicht Liebe: darum aber ist Liebe, weil jedes ein Ganzes ist, und dennoch nicht ist, und nicht sein kann ohne das andere.«

In genau dem gleichen Sinne spricht Marx von dem »gegenständlichen Wesen« des Menschen, das zu seiner »Wesensäußerung (...) von ihm unabhängige (...) unentbehrliche Gegenstände« außer sich habe. »Gegenständlich (…) sein«, hieße, »Gegenstand, Natur, Sinn außer sich haben«. Die Apotheose des Menschen, der seine »eigne Schöpfung« ist, muss indes nach Marx eigenem Urteil ein »Unwesen« genannt werden. »Ein Wesen, welches seine Natur nicht außer sich hat (...), welches keinen Gegenstand außer sich hat, ist kein gegenständliches Wesen. Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen.« Auf dieses »Unwesen« trifft zu, was Schelling über das Böse gesagt hat: »Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß es kreatürlich zu werden strebt, eben indem es das Band der Kreatürlichkeit vernichtet, und aus Übermut, alles zu sein, ins Nichtsein fällt.«

Der Marxismus - und hier, an der Quelle, ist dieser schulenübergreifende Begriff einmal berechtigt - sollte sein Verhältnis zu Schelling neu überdenken. Er hat allen Grund, als Lehre von der Befreiung der Menschen aus menschenunwürdigen Verhältnissen, der Versöhnung von äußerer und innerer Natur, sich selbst zu fragen, was an eigener Inkonsequenz und Uneindeutigkeit es möglich gemacht hat, ihn für ihm wesensfremde Zwecke zu missbrauchen.

Der Marxismus täte zudem gut daran, um sein Schwanken und Changieren zwischen ökonomischem Determinismus und Theorie der Praxis abzustellen, seine Vorurteile fallen zu lassen, und sich den ganzen Schelling statt Hegel zur philosophischen Grundlage zu nehmen, in dem, im Übrigen, das Wahre an Hegel in Form der sogenannten »negativen Philosophie« ohnehin enthalten ist.

Mit Schellings Potenzenlehre lässt sich Geschichte als freie Tat denken, ohne ein Gran an wissenschaftlicher Strenge einbüßen zu müssen. Die Freiheit ist kein leerer Begriff, sie denkt sich in bestimmbaren Möglichkeiten. Die Potenzen Schellings, schreibt Habermas mit Blick auf Hegel richtig, seien »aus härterem Stoff als Negationen (…) gleichsam mit einem Überschuss an moralischer Energie über die logischen Kategorien hinaus ausgestattet«.

Ein freier Geist wie der renommierte Religionssoziologe Jacob Taubes erlaubte sich daher schon vor mehr als dreißig Jahren die provokante Frage: »Ist das revolutionäre Programm von Marx durch die reaktionäre Philosophie des Herrn von Schelling zu retten?« Diese Frage ist aktueller denn je.

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