Eine Ehrung für 23 Jahre Hartnäckigkeit
Die Bürgerinitiative »Offene Heide« wird mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet
Beim Singen sollten die Arme erhoben sein. Hinauf zum dichten Dach der alten Linden, durch deren Laub an diesem friedlichen Sonntag das Sonnenlicht flirrt. Wer die Arme hebt, streckt die Brust heraus; er wächst und erhält eine stolze Statur. »Singen hat auch etwas mit Zivilcourage zu tun«, sagt Kantorin Hedwig Geske, die auf einer Lichtung in der Colbitz-Letzlinger Heide zu musikalischer Betätigung ermutigen will: »Hier stehe ich und rage in den Himmel hinein!«
Hier stehen sie also, wieder einmal: eine Gruppe von Unermüdlichen, Hartnäckigen, Beharrlichen. Gut 30 sind sie an diesem Nachmittag. Sie sind vom ehemaligen Colbitzer Ausflugslokal Rabensol in die Heide gewandert, haben sich eine schöne Lichtung im größten Lindenwald Europas gesucht und singen. Wer dem malerischen Weg noch ein Stück weiter folgt, wird von Schildern aufgehalten. »Militärischer Sicherheitsbereich«, ist zu lesen; vor »Übungs- und Laserbetrieb« wird gewarnt. Der Text ist unterzeichnet mit »Die Kommandantin / Der Kommandant«, für den Fall, das mal eine Frau den Chefposten im Gefechtsübungszentrum (GÜZ) Altmark übernimmt. Die Bundeswehr, sagt Bernd Luge mit leicht sarkastischem Unterton, sei eben »modern geworden«.
Ja, sie ist modern geworden in dem knappen Vierteljahrhundert, in dem sie von Luge und seinen Mitstreitern von der Bürgerinitiative »Offene Heide« quasi begleitet wird. In dem sie sich auf dem 23 000 Hektar großen Areal in der Colbitz-Letzlinger Heide festgesetzt hat, das nach einem 1991 gefassten Beschluss des Landtages von Sachsen-Anhalt eigentlich friedlich genutzt werden sollte. Doch 1993 durchkreuzte der Bundestag diese Pläne: Die Heide blieb Militärgebiet. Hatte sie einst Ingenieuren einer Versuchsstelle des deutschen Heeres zum Üben gedient und später Panzersoldaten der Sowjetarmee, hielt nun die Bundeswehr Einzug. Und die hat sich seither gewandelt: von einer Armee, die die Grenzen der Bundesrepublik sichern sollte und in der Heide einen Übungsplatz für Panzer suchte, zu einer Armee, die sich weltweit an Kriegen beteiligt: Kosovo, Afghanistan, Horn von Afrika. In der Heide werden Gefechte heute mit Laserwaffen simuliert; und in der Übungsstadt Schnöggersburg, die derzeit für mindestens 135 Millionen im GÜZ errichtet wird, können Soldaten bald auch den Häuserkampf und die Niederschlagung von Aufständen trainieren.
Verglichen mit solcherart Wandlungen ist die Bürgerinitiative vielleicht etwas traditionell. Anders gesagt: beharrlich, hartnäckig, unermüdlich. Sie protestiert gegen die Kriegsspiele in der Altmark, die leider kein Spiel sind; sie wehrt sich gegen die militärische Nutzung dieses schönen Fleckens Erde; und sie tut das, indem sie an jedem ersten Sonntag im Monat zu »Friedenswegen« einlädt. Bei diesen gibt es in der Regel ein paar Reden, danach einen Spaziergang, manchmal wird gesungen, und am Ende sind alle zu Kaffee und selbst gebackenem, schmackhaftem Kuchen eingeladen. So geht das seit Mai 1993. Seither gab es in über 23 Jahren keine Unterbrechung, gleich, ob Sonne, Regen und Kälte herrschte, ob 2000 Menschen kamen oder, wie zuletzt, nur noch drei Dutzend.
Viele von diesen sind von Anbeginn dabei - oder haben das Engagement quasi in die Wiege gelegt bekommen. Hedwig Geske, die an diesem Sonntag mit den Teilnehmern singt, ist die Tochter von Erika Drees, einer Mitbegründerin des Neuen Forums der DDR. Sie war Aktivistin der Initiative »Energiewende Stendal«, die sich gegen ein Atomkraftwerk in der Altmark wehrte, und gehörte zu den ersten Engagierten der »Offenen Heide«. Die überzeugte Pazifistin sorgte einst mit einer Aktion am Fliegerhorst Büchel für Schlagzeilen, wo US-Atomwaffen lagern. Drees durchtrennte den Zaun und pflanzte einen Apfelbaum. Eine Geldstrafe, zu der sie dafür verurteilt wurde, zahlte sie nicht, sondern ging statt dessen ins Gefängnis. Ähnlich prinzipienfeste Menschen gibt es einige in der »Offenen Heide«. Den Holzbildhauer und Spielzeuggestalter Malte Fröhlich etwa, der sich mit den einst von ihm unterstützten Grünen überwarf, weil sie mit die Hand hoben, als es 1999 darum ging, die Bundeswehr erstmals in einen Krieg zu schicken. Ihre Bemühungen um eine nicht militärische Nutzung der Colbitz-Letzlinger Heide »nehme ich ihnen nicht ab«, sagt er: »Sie befürworten Krieg als Mittel der Konfliktlösung, also müssen sie die Soldaten auch irgendwo üben lassen.« Fröhlich lehnt beides ab: das Üben in seiner Nachbarschaft - und Krieg, ganz gleich wo.
Derlei Prinzipientreue macht den Umgang nicht leicht. Mancher einstige Verbündete geht Debatten dazu, wie Konflikte in der Welt besser zu lösen seien, vielleicht inzwischen lieber aus dem Weg. Mancher frühere Mitstreiter in der Region ist auch den Verlockungen von Geld und Job erlegen. Obwohl sich Versprechen über mehr als tausend Jobs im GÜZ nie erfüllten, hat es die Bundeswehr geschafft, sich bei vielen Bewohnern und Kommunalpolitikerin der strukturschwachen Region als Heilsbringerin darzustellen. Mancher hat Arbeit auf dem von einer Rheinmetall-Tochter betriebenen Übungsplatz; auch Handwerker, Bäcker oder Fleischer profitieren. Ging man einst in Orten wie Letzlingen fast geschlossen für die Öffnung der Heide auf die Straße, ist der Widerstandsgeist heute oft erlahmt. Überregional nahm man die Colbitz-Letzlinger Heide ohnehin stets weniger wahr als die von Kyritz-Ruppin, wo es beharrlicher Widerstand 2009 vermochte, die Bundeswehr aus dem dortigen Bombodrom zu vertreiben.
Ein solches Erfolgserlebnis lässt in der Altmark auf sich warten. Dafür gibt es dort wenige Tage vor dem 279. Friedensweg ein anderes Novum: Die Bürgerinitiative »Offene Heide« wird zum ersten Mal in ihrer Geschichte ausgezeichnet. Sie erhält den renommierten »Aachener Friedenspreis«, der seine Ursprünge in der westdeutschen Friedensbewegung der 1980er Jahre hat und alljährlich am Weltfriedenstag vergeben wird, meist an zwei Preisträger. Neben der Initiative aus Sachsen-Anhalt wird diesmal das türkische »Komitee der WissenschaftlerInnen für den Frieden« geehrt. Im Fall der »Offenen Heide« erklärt der Verein, der die Auszeichnung vergibt, man wolle »Beharrlichkeit und Mut (…) zu immer wiederkehrendem zivilem Ungehorsam« würdigen. Zudem gehe der Umstand, dass sich die Bundeswehr dort auf Kriege vorbereite, alle Bundesbürger an. Was die Aktivisten in Sachsen-Anhalt an Widerstand leisten, leisteten sie »stellvertretend für uns alle«.
Andrej Hunko ist dieser Aspekt besonders wichtig. Der Bundestagsabgeordnete der LINKEN ist Mitglied im Friedenspreis-Verein und betont, dass dieser mit den Ehrungen stets auch ein Signal senden möchte. Zuletzt seien viele internationale Initiativen geehrt worden. »Wir dürfen aber nicht nur mit dem Finger auf andere zeigen«, sagt Hunko: »Wir müssen auch sagen, was von Deutschland ausgeht.« Die Militarisierung der deutschen Außenpolitik werde nirgendwo deutlicher als auf dem hochmodernen Übungsplatz im Norden Sachsen-Anhalts. Zugleich bleibe die Existenz des GÜZ und der Übungsstadt Schnöggersburg in der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. »Wenn ich in Nordrhein-Westfalen erzähle, dass dort für militärische Übungszwecke die einzige U-Bahn in ganz Sachsen-Anhalt gebaut wird, greifen sich die Leute an den Kopf.«
Doch neben dem politischen Signal nach außen geht es beim Friedenspreis auch darum, Initiativen zu ermutigen: »Wir wollen ihnen den Rücken stärken«, sagt er. In der Altmark ist die Botschaft angekommen. Man fühle sich »beflügelt«, sagt Helmut Adolf, einer der Protagonisten der »Offenen Heide«, der zur Preisverleihung gemeinsam mit einem Dutzend Mitstreitern nach Aachen fährt. Dort wird er, wie üblich an diesem Tag, zunächst an der Friedenskundgebung des DGB teilnehmen. Zum Abschluss singt man dort stets: »We shall overcome«, den Klassiker der Friedensbewegung. Vielleicht heben die Teilnehmer aus Sachsen-Anhalt dabei die Arme. Nicht, weil sie sich ergeben, sondern weil man dabei eine stolze Statur erhält: »Hier stehe ich - und rage in den Himmel hinein.«
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