Das Leiden der Vergessenen
Péter Esterházy: Das jüngste Buch des im Juli verstorbenen Autors verarbeitet Geschichte des 20. Jahrhunderts
Am 14. Juli verstorben, hat Péter Esterházy die deutsche Übersetzung dieses schön gestalteten, schmalen Buches noch sehen können. Nun erscheint es, neben seinen großen Romanen, wie das Vermächtnis eines begnadeten Erzählers.
Die Bücher Péter Esterházys scheinen ja tatsächlich etwas für intellektuelle Gartenliebhaber zu sein. Wie große Bäume vielfach verästelt, wachsen seine Erzählungen und Romane in unzählige Richtungen. Assoziationen sprießen wie bunte Blumen, es gibt zahllose Anspielungen an Literatur und Kultur.
Ja, seine Bücher sind ein wahres Paradies für den, der Spaß am Denken hat. Das gilt auch für sein neuestes Werk, das bereits im Titel - »Die Markus-Version« - den Verweis auf einen literarischen Urtext der Menschheit gibt, das Markus-Evangelium. Esterházy zitiert in seinem aus hundert einseitigen Abschnitten bestehenden Text die Geschichte vom Leben Jesu immer wieder - von seiner Taufe durch Johannes bis zur Kreuzigung. Allerdings ersetzt er ironisch das »Er«, das der Evangelist für Jesus gewählt hat, durch das »Ich« des Erzählers und zieht damit die Parallele zur erzählten Geschichte, die in der ungarischen Provinz in den 1950er Jahren spielt.
Der namenlose Erzähler, der als taubstumm gilt, den man sich indes als früh sprach- und erinnerungsfähigen Oskar Matzerath vorstellen muss, wird mit seinen Eltern und seinem Bruder zwangsweise bei einem Großbauern einquartiert. Weil die Eltern keine Bauern sind, leiden sie unter der Situation. Zu allem Unglück erwidert die Mutter die Liebe ihres Mannes nicht; ihre große Liebe, ihren ersten Mann, hatten die Deutschen ermordet. An der Wand des Zimmers, in dem die Familie leben muss, hängt ein Jesuskreuz. Es wird zum Ausgangspunkt von philosophischen und religiösen Überlegungen des frühreifen Erzählers: von der Bedeutung der Leiden Jesu über die Wunder, von denen Markus berichtet, bis zur Auferstehung.
Und immer wieder verknüpft er die Passion Christi mit den Alltagserfahrungen der deportierten Familie. Der ältere Bruder erhält dabei die Rolle des Markus. Er beginnt, alles aufzuschreiben, was der Familie widerfährt, will, wie der Evangelist Zeugenschaft ablegen.
An einer Stelle wird der Zusammenhang zwischen Leiden und Erzählen in einem Dialog problematisiert: »Alle Geschichten widerfahren mir, sagt mein Bruder. Das ist Unsinn. Wenn ich es aufschreibe, widerfährt es mir auch. Dann schreib es nicht auf, ich starre ihn stumm an.« Das Leben der Eltern wird so zur Passion. Der Vater beginnt zu trinken, die Mutter leidet unglücklich in der Enge des Zimmers, in dem die Familie zeitweise - als auch noch die Großmutter dazukommt - zu fünft leben muss.
Als der Bauer und seine Frau Róza ihr Land an die LPG überschreiben sollen, weigern sie sich. Bis eines Tages früh morgens der Dorfpolizist vor der Tür steht und den Bauern verhaftet. »Meine Mutter umarmte Tante Róza. Die begann zu schreien, auch Sie wird man mitnehmen, das ist sicher, es kann nicht sein, dass immer nur die Bauern gequält werden ... wir sind das Volk, Sie sind der Volksfeind. Meine Mutter ließ die Frau los. Sie schaute sie lange an, verwundert.« Und sagte: »Man nimmt uns nicht mit, meine Liebe, weil wir schon mitgenommen sind.«
»Die Markus-Version« versetzt in keinen Leserausch, wie konventionell erzählte Romane. Trotzdem geht einem das Buch am Ende nicht mehr aus dem Kopf. Das liegt an der eindringlichen Schreibweise Esterházys und an der Geschichte selbst, die dem Leiden derjenigen, die die Geschichte vergessen hat, eine Stimme gibt.
Péter Esterházy: Die Markus-Version. Einfache Geschichte Komma hundert Seiten. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming. Hanser. 116 S., geb., 16,90 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.