Was die Menschen bewegt
»Pina Bausch und das Tanztheater« - eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau
Diese Ausstellung im Martin-Gropius-Bau zieht den Betrachter kraftvoll in die Gedanken- und Bühnenwelt der ewig suchenden Choreografin Pina Bausch (1940- 2009) und ihrer an internationalen Tänzerpersönlichkeiten so reichen Wuppertaler Compagnie. Pina Bausch wird 1973/74 Leiterin des Wuppertaler Balletts, das sie programmatisch in Tanztheater Wuppertal umbenennt. Sie erprobt verschiedene Genres, bestimmend wird die Revue: Handlung in Bruchstücken, Fragmente für eine brüchige Welt, für fragwürdige Besitzverhältnisse, hinter der Schönheit lauert der Abgrund, Chiffren für den desolaten Zustand der Menschen, die sich trotzig in fahrigen oder in ritualisierten Bewegungen zu behaupten suchen.
Pina Bausch war überzeugt davon, dass das Tanzen einen anderen Grund haben muss als bloße Technik und Routine. Ihr ging es darum, eine eigene Sprache zu finden - mit Worten, mit Bildern, Bewegungen, Stimmungen -, die die Beweggründe erhellt. Aus den sie bewegenden Fragen sind die Fragen an die Tänzerinnen und Tänzer entstanden, die jedem Stück zugrunde liegen. Fragen, die an die Zuschauer als Teil der Vorstellung weitergegeben werden.
»Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern, was sie bewegt«, so Pina Bausch in ihrer Rede zur Verleihung des Kyoto Award 2007. Diese Rede, in der die wortkarge Künstlerin öffentlich über die »planlosen Herausforderungen« seit der Kindheit und den weiten Weg ihres Tanztheaters bis zur Etablierung eines zeitgenössischen Tanztheater-Netzwerks nachdenkt, inspirierte das Kuratoren-Trio um Salomon Bausch (Gründer der Bausch Foundation Wuppertal). Das Ausstellungskonzept konzentriert sich auf den künstlerischen Lebensweg der Tänzerin, ihre ersten Choreografien für das Folkwang-Ballett Essen, die Gründung des Wuppertaler Tanztheaters, das Ensemble - von großer Heterogenität an Altersstruktur, Erscheinung, Begabung, allesamt außerordentliche Persönlichkeiten mit eigenem Gesicht - und auf die spezifische Arbeitsweise. Die kühnen assoziativen Bühnenlandschaften von Rolf Borzik und Peter Pabst, die Kostüme von Marion Cito, die musikalischen Montagen von Matthias Burkert geraten in Bild, Film und Ton ebenso wie die Koproduktionen rund um den Erdball in den Fokus des Betrachters.
Auch die berühmte Reihe »Frühling Sommer Herbst Winter« aus dem Stück »Nelken« (1982) wird heute weltweit von Menschen getanzt. In Berlin ist jede und jeder eingeladen, die prägnanten Gesten vom Wechsel der Jahreszeiten im gemeinsamen Voranschreiten auszuprobieren. Ann Endicott, eine der großartigen Protagonistinnen der Compagnie, steht inmitten einer Gruppe von 25 Frauen und Männern jeden Alters im Probenrund der legendären »Lichtburg« und formt die präzisen Gesten der Arme für Gras, Sonne, fallende Blätter, Kälte. Das Kino aus den 50er Jahren mit geschwungenem Rang, gelben Leuchten an gewellter Wandbespannung in Wuppertal-Barmen ist seit 1978 der Probenraum der Compagnie. Jetzt wurde dieser authentische Probenort als Nachbau in den Lichthof des Gropius-Baus verpflanzt. Ein verblüffender Coup! Glaubt man doch, Pina Bausch würde gleich hereintreten, vier Spiegel, Kostüme auf Bügeln der Wuppertaler Bühnen, bunte Heels am Haken, ein Klavier und vorn der Holztisch mit drei Stühlen. Hier hat Bausch gesessen, geguckt, meist mit einer Zigarette in der Hand. Die »Lichtburg«, hermetisch geschützter Probenort in Wuppertal, hier in Berlin öffnet er sich; ehemalige und derzeitige Ensemblemitglieder werden ihr Körperwissen bei täglichen Workshops, Warm-Ups, Lecture Performances, Talks an Interessierte weitergeben. Im Dezember wird die »Lichtburg« zum Kino für Dokumentar- und Spielfilme über die Arbeit des Wuppertaler Tanztheaters.
In einem abgedunkelten Kabinett kann man Pina Bausch in Interviews und Reden im O-Ton zwischen 1973 bis 2007 erleben. Im Raum mit sechs Großbildschirmen werden parallel Szenen aus allen Stücken in Soli, Gruppen, wechselnden Besetzungen und die furiosen Ensemble-Reihen mit dem komplizenhaften Lächeln der Protagonisten ins Publikum gezeigt. Die schönen starken Frauen und Männer, verletzbar und einander verletzend - voller Sehnsucht, Angst, auf der Suche nach Liebe - eine großartige visuelle Zeitreise.
»In Sizilien«, vermerkt eine Probennotiz vom 29. April 1989, »Baum malen«. Einige der Baumzeichnungen von Ensemblemitgliedern aus dem Produktionsordner hängen in der Ausstellung. Sie sind Teil der Arbeitsphase zur Koproduktion »Palermo Palermo« (1989). In Berlin stand Pina Bausch lächelnd inmitten ihrer Compagnie beim Schlussbeifall für »Rough Cut« 2007, es war das letzte Mal. Ein halbes Jahr nach ihrem Tod 2009 gastierte das Ensemble mit »Die sieben Todsünden« in Memoriam im Festspielhaus. Im Dezember 2016 kehrt das Wuppertaler Tanztheater mit vier Vorstellungen von »Palermo Palermo« endlich auf die Bühne im Haus der Berliner Festspiele zurück. Das Werk von Pina Bausch findet auf der Bühne statt! Unser Wissen über uns selbst ist in Bauschs Stücken bis in kleinste Nuancen als eruptive sinnliche Erfahrung gespeichert. Man sollte sich Zeit nehmen, um mit allen Sinnen in den Kosmos »Tanztheater Pina Bausch« einzutauchen.
Bundeskunsthalle Bonn im Martin-Gropius-Bau Berlin: »Pina Bausch und das Tanztheater«. Bis 9. Januar 2017, Mi-Mo 10-19 Uhr. www.gropiusbau.de
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