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Klarkommen in einem Leben ohne Leitplanke
Die Österreicherin Birgit Birnbacher porträtiert eine Generation, der das Hier-Sein nicht reicht, die aber auch nicht weg will
Das Verlangen nach Sicherheit ist etwas Großes. So innig, dass es der alles bestimmende Antrieb für eine Generation der heute 20- bis 30-Jährigen sein soll. Entweder, sie haben die Sicherheit schon gefunden, den unbefristeten Vollzeitjob, einen Platz im öffentlichen Dienst, den Partner fürs Leben oder sie vergehen dabei, sie zu finden, die wohlig warme Umarmung aus Absehbarkeit und Berechnung.
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* Birgit Birnbacher: Wir ohne Wal. Roman. Verlag Jung und Jung. 182 S., geb., 18 €.
Im Romandebüt »Wir ohne Wal« der österreichischen Schriftstellerin Birgit Birnbacher sind die Protagonisten - und es sind viele - dabei, sich einzurichten in einem Leben, das jenseits fester Bezüge (Eltern, Schule, Zimmeraufräumen) stattfindet. Der Wal, Zentrum einer Geschichte um eine junge Künstlerin und ihre Wal-Installation, wird dabei zum Symbol der Schwerelosigkeit, der Sehnsucht nach einem Moment ohne Sorgen, Zweifel, Wut. Er bildet den Rahmen um die mal mehr, mal weniger fest miteinander verbundenen zehn Geschichten, die jeweils aus der Ich-Perspektive erzählt werden.
Darin geht es zum Beispiel um die Entfremdung zweier Schwestern, eine unstet im Leben, die andere stellt samstags selbstgebackenen Zitronenkuchen auf einen Gartentisch mit Gewichten gegen den Wind. Es geht um Marko, vollgestopft mit Drogen. Er überfällt eine Tankstelle, landet in einer Therapieeinrichtung und sucht einen Haltepunkt, irgendwas, Ausbildung, Hobbys, eine feste Freundin.
Oder Eve, die zwischen ihren Freunden versucht, einen eigenen Platz auszuloten. Heimlich beneidet sie Sanna, die alles riskiert, die nicht studiert hat und einen Fischladen eröffnen will und gleich bei der Bank wegen ihres Kredites vorsprechen muss. Stattdessen steckt Eve fest in einem Studium, mit viel »Tagesfreizeit« (Sanna) und wundert sich über ihre Gefühlskälte nach der Trennung von ihrem Freund, der, seit er einen Selbstmord mitansehen musste, nicht mehr der Alte ist.
»Wir ohne Wal« porträtiert Menschen, die begreifen, dass es mit dem Kindsein längst vorbei ist. Die sich Fragen über das Leben stellen und an dem alles verändernden Moment angekommen sind, an dem sie merken, dass sie schon mitten drin sind. Ihre Anklage, was fehlt, funktioniert immer über die direkte Ansprache, nicht an sich selbst, sondern an andere. »Alt und allein, sage ich, dass du nie Kinder willst und dann merkst, dass du keine haben kannst. Oder schlimmer, dass du welche hast, die dir nicht vergeben.« Der große Fehler zumeist, dass Sagbare nicht gesagt zu haben. Das Unbehagen hinzunehmen, aus Angst, tatsächlich reden zu müssen. Nicht über die Farbe der Couch, das Ende des Films, sondern über das Scheitern. Das eigene oder das des anderen, meistens das gemeinsame.
Birgit Birnbacher seziert menschliche Fehlbarkeit und ihre Unsicherheiten dabei sprachlich so präzise, ist so nah dran an den ernüchternden, verstörenden und humorvollen Erkenntnissen ihrer Figuren, dass man Sätze aus ihrem Buch herausschreibt, um sie in den richtigen Momenten parat haben zu wollen. Das sind solche wie »Bei dir weiß man nie, schmeckst du nach Ruß oder nach Butter.«
Vieles ist schon geschrieben worden über diese schwerelose Generation junger Menschen, die wahlweise an Reizarmut leiden und sich kopfüber in alles Mögliche stürzen oder die beinahe narkotisiert vor lauter Routine ihren Alltag bewältigen. »Wir ohne Wal« ist keine weinerliche Anklage, keinen Halt in einer unsteten Welt finden zu können, es ist das episodenhafte Nachdenken darüber, sich mehr zu trauen, mehr nachzufragen, mehr zu reden, mehr zuzulassen. Am Ende eben die Größe eines Wales zu besitzen.
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