Nach dem Hurrikan droht der Hunger

In Haiti wurde ein Großteil der Ernte zerstört und der Preis für das Grundnahrungsmittel Bohnen schießt in die Höhe

  • Hans-Ulrich Dillmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Der dominikanische Präsident Danilo Medina hatte seinem haitianischen Amtskollegen Jocelerme Privert schnelle Hilfe versprochen für die Opfer des Monstersturms »Matthew«. Die Armada aus Tiefladern mit schwerem Räumgeräte wie Planierraupen, Radladern, Mini- und Großbaggern sowie Sattelschlepper mit Tonnen von Lebensmitteln, Medizin, Trinkwasser und Wasserausbereitungsmaschinen war am 11. Oktober in Santo Domingo von Medina verabschiedet worden: »Unsere haitianischen Brüder brauchen jetzt unsere Hilfe.« Drei Tage später rollte dann eine gigantische Lkw-Kolonne in Les Cayes ein. Über schlamm- und geröllverschmutzte, zum Teil unterspülte Straßen, durch Flussfurten vorbei an kleinen, einsturzgefährdeten Brücken, die nach dem Hurrikan nicht mehr passierbar waren, hatten sich 500 Fahrzeuge bis in die Hafenstadt durchgekämpft. 248 Baumaschinen bleiben vorerst in Haiti.

Mit im Konvoi waren 250 Ingenieure, Baugerätefahrer, Bauarbeiter und freiwillige Helfer, die Volksküchen in Les Cayes und Umgebung errichten sollen. Als der Hurrikan »Matthew« am 4. Oktober bei Tiburon, 350 Kilometer von der Hauptstadt Port-au-Prince entfernt, am südwestlichsten Zipfel des Landes auf Land traf, zerstören die Windkräfte von bis zu 230 Stundenkilometern und die sintflutartigen Regenfälle eine der ärmsten Regionen Haitis. Der »große Süden« - die Departements Grande Anse, Süden, Nippes, Süd-Osten und Nord-Westen - liegen als Folge des Sturms im wahrsten Sinne des Wortes am Boden. Nur langsam wird das ganze Ausmaß der Katastrophe deutlich, da Hilfsorganisationen und Helfer nur unter Mühen in die stark betroffenen Gegenden vordringen können.

Die Hafenstadt Jérémie, die am Rand des Monstersturmzentrums der Kategorie 4 lag, bietet auch knapp zehn Tage danach ebenso wie weite Teile des Südwestens ein Bild der Verwüstung. Die Slumvororte der gut 30 000 Einwohner-Stadt haben Wind und Fluten fast dem Boden gleichgemacht, ein Inferno aus Holzstücken, Wellblechplatten und Möbelresten. 80 Prozent der Stadt sind nach Angaben von Jean-Michel Vigreux, Direktor der Care Haiti zerstört - ein Trümmerfeld. Nach Informationen der Organisation Ärzte ohne Grenzen wurde das Krankenhaus der Provinzstadt völlig zerstört. Unzählige Menschen hätten sich in den Fluten Schnittwunden zugezogen, die sich aufgrund der hygienischen Zustände zu entzünden drohten.

In die Ortschaft Chantal gelangten die Helfer über den Fluss nur mithilfe einer instabilen Bretterkonstruktion. Trinkwasserflaschen, Decken, Lebensmittel, Verbandsmaterial und Medikamente müssen von freiwilligen Helfern auf dem Kopf über die Behelfsbrücke balanciert werden. Zahlreiche kleine Brücken in der Region sind zusammengebrochen, die Straßen unpassierbar für Hilfslieferungen per Lkw. »Wir hungern«, schreit eine junge Frau in einem Bericht des dominikanischen Fernsehsenders SIN aus Haiti in die Kamera. »Alle Vorräte und Lebensmittel hat der Sturm zerstört.«

Nach einer Bilanz des Ausbildungs- und Forschungszentrums für wirtschaftliche und soziale Entwicklung Ausbildung ist die gesamte Infrastruktur dieser Departements betroffen, zwei Drittel der Straßen, die erst vor knapp sechs Jahren gebaut wurden, seien zerstört. »350 000 Tiere, Kühe, Ochsen und Ziegen sind ertrunken«. Die Bananen-, Mango- und Palmenpflanzungen sind nahezu vollständig vernichtet.

Die Bohnenernte stand in diesen Wochen an. Aber 80 Prozent der Pflanzungen sind zerstört. Der Preis für ein Pfund Bohnen, einem Grundnahrungsmittel im Armenhaus Lateinamerikas, hat sich auf den Märkten bereits um 50 Prozent erhöht.

In einer ersten Schadensbilanz urteilt das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheit (OCHA): 2,1 Millionen Menschen sind in Haiti von dem Sturm betroffen gewesen, mindestens 1,4 Millionen Menschen brauchen Hilfe, weil sie ihre Häuser verloren, keine Lebensmittelvorräte und keinen Zugang zu Trinkwasser mehr haben. Tausende sind verletzt. »Einige Städte und Dörfer sind fast von der Landkarte gefegt worden. Felder und Essensreserven wurden zerstört. Mindestens 300 Schulen wurden beschädigt«, alarmierte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon die internationale Staatengemeinschaft.

Nach Einschätzung der UN-Helfer von OCHA vor Ort werden fast 110 Millionen Euro benötigt, um rund 750 000 Menschen, die die Hilfe am dringendsten brauchen würden, in den nächsten drei Monaten zu versorgen. Darunter sind rund 315 000 Kinder. Aber lediglich 20 Prozent Finanzzusagen habe die UN aus den Mitgliedsstaaten erhalten. Die Zahl der Toten steigt noch immer. Um einer Seuchengefahr vorzubeugen, wurden zahlreiche Opfer des Monstersturms einfach verscharrt. Nach Angaben der haitianischen Zivilschutzbehörde in Port-au-Prince starben offiziell 546 Tote, fast 130 Personen wurden bisher als »verschwunden« registriert. Diesen Todesziffern widerspricht allerdings das haitianisch-karibische Nachrichtennetzwerk (HCNN), das die Zahl aufgrund Vorortrecherchen in den Gemeinden und Befragung der Bürgermeister auf über 1300 beziffert.

Bei den Überschwemmungen wurden auch die Latrinen und Friedhöfe im Land überflutet. Nach wie vor Treiben Leichen und Tierkadaver in den Flüssen. Da kein oder kaum sauberes Trinkwasser vorhanden ist, nutzen die Menschen kontaminiertes Wasser aus den Flüssen und Zisternen zum Kochen. Da es kein sauberes Wasser gibt, trinken die Überlebenden verschmutztes Wasser. Mindestens 160 Cholera-Tote wurden bisher laut HCNN aus dem Katastrophengebiet gemeldet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat eine Million Impfdosen gegen Cholera in das Katastrophengebiet geschickt, mit denen etwa eine Million Menschen wenigstens für ein halbes Jahr gegen die Seuche immunisiert werden kann.

Innerhalb von nur sechs Jahren hat Haiti damit drei Katastrophen erlebt. Bei dem großen Erdbeben rund um Port-au-Prince wurden mehr als 250 000 Menschen getötet. Noch immer leben Tausende in Behelfsunterkünfte, die jetzt überschwemmt wurden. Wenige Monate später brach eine Cholera-Epidemie aus. Etwa 800 000 Menschen erkrankten, rund 10 000 starben.

Acht Stunden war Armand F. unterwegs, um nach dem Sturm nach seiner Familie in Miragoâne zu sehen, knapp 100 Kilometer von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince entfernt gelegen. Hunderte versuchen wie er, nach der schweren Unwetterkatastrophe in die von aller Kommunikation abgeschnittenen Südwestprovinzen zu gelangen. »Ich wollte wissen, was mit meinen Angehörigen ist«, sagt der Büroangestellte. Sein Steinhaus in der Umgebung von Marigoâne hat den Winden getrotzt, ein Betondach der Familie genügend Schutz geboten. »Die Wellblechdächer meiner Nachbarn sind weggeflogen, die Wände zusammengebrochen.« Armand F. hatte Glück im Unglück.

Spendenkonto von »Bündnis Entwicklung hilft«: IBAN: DE71 3702 0500 0008 1001 00 Stichwort: Hurrikan Matthew

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