Gehirnwäsche für Psychiater
Riskante Psychopharmaka befinden sich trotz gravierender Nebenwirkungen auf dem Vormarsch
Die Nebenwirkungen einiger Psychopharmaka lesen sich wie eine Horror-Liste. Beispiel Aprazolam aus der Familie der Benzodiazepine: Wird es länger als zwölf Wochen verschrieben, bestehe die Gefahr, dass »depressive Beschwerden zunehmen«, heißt es im »Versorgungsreport« der Krankenkassen. Schon nach kurzer Zeit gebe es ein erhöhtes Risiko der Abhängigkeit. Werde das Medikament abrupt abgesetzt, könnten Unruhe und Reizbarkeit die Folge sein. In »extremen Fällen« führe das Mittel zu »schwerwiegenden Störungen wie Realitäts- und Persönlichkeitsverlust.« Deshalb müssten Patienten und Angehörige vor allem bei Beginn einer Behandlung »sehr wachsam sein.«
Bei Amitriptylin gehen die Nebenwirkungen so weit, dass bei den Patienten mögliche Selbstmordgedanken verstärkt würden. Gelegentlich komme es auch zu »verstärkten Anfällen von Verfolgungswahn«. Eines der am meisten verschriebenen Psychopharmaka ist Citalopram. Die erwünschte Antriebssteigerung gehe einher mit Symptomen, die nach plötzlichem Absetzen der Antidepressiva auftreten, wie innere Unruhe und Spannung, Reizbarkeit, Angstzustände, Appetitverlust. Die Medikamente müssen deshalb mit langsam reduzierten Dosierungen »ausgeschlichen« werden.
Rund vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an Depressionen. 2010 verschrieben ihnen Ärzte 1,4 Milliarden Tagesdosen Prozak und Co. Das ist das Siebenfache der Menge von 1990 - jenem Jahr, in dem die angeblich wirksamere Wirkstoff-Gruppe mit dem Kurznamen SSRI auf den Markt kam. Vor allem bei jungen Leuten von 16 bis zu 24 Jahren ist ein rational nicht erklärbarer Anstieg des Verbrauchs um rund 15 Prozent jedes Jahr zu verzeichnen. Die pharmazeutischen Angstlöser werden hier häufig zu Auslösern von Aggressionen, die sich in der Mehrzahl der Fälle zunächst gegen sich selbst richten. Bei Kindern und Jugendlichen zeigen Studien einen so hohen Anstieg der Selbsttötungsversuche während der Tabletteneinnahme, dass die Hersteller in den USA inzwischen auffällige Warnhinweise auf die Beipackzettel drucken müssen.
Unter den Fachmedizinern wächst die Skepsis gegenüber den Psycho-Pillen. So meint zum Beispiel Peter Lehmann, Autor des Buches »Der chemische Knebel« und Chef des Antipsychiatrieverlages: »Neuroleptika schaden den Betroffenen grundsätzlich, egal ob sie kurz- oder langfristig angewendet.werden«. Und die Autoren des pharmakritischen Buches »Unglück auf Rezept«, Peter und Sabine Ansari, betonen: »Anti-Depresssiva werden viel zu schnell verordnet und den Patienten regelrecht aufgezwungen. Würden die Medikamente dann abrupt wieder abgesetzt - zum Beispiel wegen auftretender Nebenwirkungen - könne das «lebensbedrohliche Folgen haben».
Mit der Umwidmung eines ursprünglichen Blutdruck-Mittels zum Antidepressivum Prozac durch den US-Konzern Elli Lilly begann im Jahr 1988 der Siegeszug der Psycho-Pillen über die Arztpraxen hin zu den Patienten. Wie dieser Markt von der Pharmaindustrie gesteuert wird, beschreiben die Ansaris in ihrem Buch mit dem Untertitel «Die Anti-Depressiva-Lüge und ihre Folgen. Sie beschreiben Marketing-Etats, die meist größer seien als die Forschungsbudgets in den einzelnen Unternehmen. Daraus werden 15 000 Pharmareferenten und ihre breit gestreuten Probepackungen finanziert, und darüber hinaus 90 Prozent aller Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte in diesem Land gesponsert.
Wie wenig wirksam selbst die relativ neuen und hochgelobten Psychopharmaka der Kategorie SSRI sind, zeigt sich laut Bruno Müller-Oerlinghausen allein schon darin, dass trotz eines steigenden Antidepressiva-Konsums die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in den psychiatrischen Kliniken ebenfalls zugenommen hat. Müller-Oerlinghausen kennt die Problematik wie kein Zweiter: Der emeritierte Professor der Freien Universität Berlin war jahrelang Vorsitzender der Arzneimittel-Kommission der Ärzteschaft. Sein Fazit: »Die fast kriminell zu nennenden Handlungen der Pharmaindustrie sind verantwortlich für die Gehirnwäsche einer ganzen Generation von Psychiatern«, indem man ihnen »glaubhaft machte, die Depression sei eine Serotoninmangelkrankheit«.
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