«Alles muss auf den Tisch!»
Gedanken zu einer Podiumsdiskussion im Schloss Bellevue über die «Die Einheit Europas und das Erbe der Geschichte»
You say you want a revolution/Well, you know/We all want to change the world.« Das Lied schrieb John Lennon in Indien 1968, inspiriert von der Studentenrevolte in Paris, dem Vietnamkrieg und dem Attentat auf Martin Luther King. Lassen die ersten Zeilen »Du sagst, du möchtest eine Revolution/Nun, weißt du/Wir alle wollen die Welt verändern« vermuten, der Song rufe zu einem revolutionären Umsturz auf, so warnen die folgenden Strophen explizit vor destruktiven, hasserfüllten Aktionen.
Was gemeinhin als friedliche oder samtene Revolution bezeichnet wird, hat rabiate Folgen gezeitigt (Abwicklung, Arbeitslosigkeit, Ausverkauf). Gewiss speisten auch diese Erfahrungen den eruptiven Nationalismus und Rechtsextremismus in Osteuropa.
»Die Einheit Europas und das Erbe der Geschichte« war die Podiumsdiskussion überschrieben, zu welcher der Bundespräsident und die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur Berliner Schüler ins Schloss Bellevue luden. Welche Nachwirkungen auf die aktuelle europäische Politik haben die unterschiedlichen historischen Entwicklungen in Ost und West vor und nach 1989? Dies sollten und wollten der Brite Neil MacGregor, Gründungsintendant des Berliner Humboldt-Forums, der polnische Journalist Adam Krzemiński, die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja und Werner Schulz, DDR-Bürgerrechtler und ehemaliger Abgeordneter des Europaparlaments, debattieren. Klar, dass zunächst der Hausherr sprach.
Joachim Gauck gab die üblichen Lobgesänge auf die osteuropäischen Revolutionäre, die sich selbst befreiten von »Kommunismus, Überwachung und Unterdrückung, auch die spürbaren Folgen der Mangelwirtschaften konnten erst ab 1989 überwunden werden«. Er vergaß zu erwähnen: Überwunden wurden auch soziale Standards, zunächst im Osten, dank Entsolidarisierung der Arbeiterschaft, sodann auch - Rache folgt auf dem Fuß - im Westen. Doch all das interessiert den vom Aktenhüter zum Staatsoberhaupt avancierten Mann nicht, der mit der Weisheit überraschte: »Das geeinte Europa ist keine Laune der Geschichte.«
Man mag die realsozialistischen Länder als »Fürsorgestaat« und »Erziehungsdiktatur« verspotten, der Mangel an Verantwortung des Staates heute für seine Bürger treibt diese massenweise auf Straßen und Domplätze. Und der vielbeschworene »Meinungspluralismus« kaschiert vielfach nur fehlende staatliche Aufmerksamkeit hinsichtlich der Umtriebe rechter, chauvinistischer Kräfte.
Rainer Eppelmann, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung, der sich brav beim »lieben Joachim« bedankte, war etwas konkreter als sein Vorredner. Er machte die Wirtschafts- und Finanzkrise (die indes nicht aus dem Nichts wie ein Tsunami über uns kam) für den Vormarsch von Rechtspopulisten verantwortlich, die in Ungarn und Polen bereits an der Macht sind. Eppelmann beklagte nationale Alleingänge und Abgrenzungen und erkannte im Drängen der Ukraine nach Europa, »durch das sich Russland als Großmacht herausgefordert fühlte«, die Ursache für den neuen Kalten Krieg. Der Pfarrer a. D. monierte zudem, dass die Gedenkfeierlichkeiten zum Jahrestag des Aufstandes 1956 in Ungarn von »höchster Stelle« zum Anlass genommen wurden, »um die harsche Haltung gegen Migranten und Flüchtlinge zu rechtfertigen« und gegen eine »Sowjetisierung« der EU zu wettern.
Das Gespenst einer »EUdSSR« beschwört seit geraumer Zeit schon der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders. Und dass Österreich knapp an einem rechten Präsidenten vorbeischrammte, in Frankreich jedoch Marine Le Pen nächstes Jahr durchaus in den Élysée-Palast einziehen könnte, beweist: Rechtes Gedankengut ist keine Frage der Himmelsrichtung. Zudem: Die Infizierung großer Teile der Bevölkerungen osteuropäischer Staaten, inklusive vieler Ostdeutscher, hat nichts damit zu tun, dass sie diktaturgeschädigt seien, wie zuweilen zu lesen und zu hören.
Am klarsten und überzeugendsten, mit weltgeschichtlicher Verve, äußerte sich Krzemiński. Er sieht in Polen wie in Ungarn 25 Jahre nach der Wende eine Konterrevolution am Werke, ähnlich der ein Vierteljahrhundert nach der Großen Französischen von 1789 mit der Heiligen Allianz gestarteten und - im nahezu zeitgleichen Abstand - nach 1917 unter Stalin in der Sowjetunion. »Diese historische Abfolge erscheint fast wie ein Naturereignis.« Der Redakteur beim Magazin »Polityka« entschlüsselte den Erfolg von Jarosław Kaczyński und dessen Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit): Die nationale Karte gelte als Trumpf im innenpolitischen Machtkampf. Die Populisten in Warschau suggerieren, den Polen nationale Würde zurückzugeben, die sie mit ihrem Kniefall vor der EU abgegeben hätten. Damit einher ginge die Verweigerung, sich ehrlich mit der eigenen Geschichte zu befassen, dies nicht nur von anderen (Russen, Ukrainern) zu fordern: »Alles muss auf den Tisch!«, verlangte Krzemiński.
Für »überzogen« hielt der polnische Journalist den Vergleich von Kaczyński und Viktor Orbán mit Wladimir Putin, den zuvor Schulz gewagt hatte, der zum x-ten Male den Kremlchef einen »notorischen Lügner und Kriegshetzer« schimpfte, der »Nationalisten und Populisten unterstützt, skrupellos die Friedensordnung in Europa zerstört, Grenzen verschiebt und uns die Flüchtlinge scharenweise (sic!) zutreibt«. Wortwahl verrät, wes Geistes Kind man ist. Und Schulz kann froh sein, dass Putin nicht so zart besaitet und klagewütig ist wie Recep Erdoğan.
Die Bewunderung der beiden französischen Präsidentschaftskandidaten (Le Pen und François Fillon) für Putin sieht der Historiker MacGregor im traditionell engen französisch-russischen Verhältnis begründet, »einst ein wichtiger Faktor in der europäischen Politik«. Der Brexit resultiere einerseits aus den »harschen Veränderungen« für die sogenannten »kleinen Leute«, vor allem auf dem Lande, nach dem Beitritt osteuropäischer Staaten zur EU. Fremdenhass dominiere Britannien nicht, das Land habe eine enorme Integrationsleistung vollbracht (Inder, Pakistani); zwei Drittel der Neugeborenen 2015 im Vereinigten Königreich hätten Eltern mit Migrationshintergrund. Als zweiten Grund für die Entscheidung zum Verlassen der EU benannte MacGregor die »schlimme Entpolitisierung« der an sich Europa wohlwollenden Jugend, die sich »aber heftig und kompetent für Umweltschutz« engagiere. MacGregor konzedierte, dass Briten und Franzosen ihre eigene (vor allem Kolonial-)Geschichte nicht mit gleicher Strenge wie die Deutschen aufgearbeitet hätten. Die 1970 in Kiew geborene Katja Petrowskaja ergänzte: »Es rächt sich jetzt, dass sich die Ukraine nicht kritisch ihrer Geschichte gestellt hat.« Wenn ein Volk sich nicht zu eigener Schuld bekennt, werde es nie frei sein. »Es ist wie bei den Menschen: Wer Fehler nicht eingesteht, wird nie erwachsen«, bemerkte die Schriftstellerin.
John Lennon hat keine Revolution angezettelt. Stattdessen veranstaltete er zur Freude der Pressefotografen mit seiner Yoko Ono ein Bed-in für den Weltfrieden. Es hat nichts genützt. Auch heute würde eine solche Aktion weder Europa noch der Welt Frieden bescheren. Zudem: Man sollte sich stets in Acht nehmen, mit wem man unter die Bettdecke kriecht.
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