Sie streben nach dem kleinen Glück
700 Seiten in drei Stunden: Das Staatsschauspiel Dresden bringt Hans Falladas »Jeder stirbt für sich allein« auf die Bühne
Die Banalität des Bösen wohnt oft nebenan. Zum Beispiel in der Jablonskistraße 55 in Berlin: Emil Barkhausen (Philipp Lux), ein schmieriger Denunziant, bespitzelt seinen des Hochverrats verdächtigten Kumpan Enno Kluge und will ihn für 500 Mark den Behörden ausliefern. Gerissen, wie er ist, flunkert der Gelegenheitsdieb die verwitwete Hete Häberle (Hannelore Koch) an, die Kluge bei sich versteckt hält. 1000 Mark habe ihm die Polizei geboten, und die Dame müsse ihm schon mindestens 2000 zahlen, damit er den Inkriminierten nicht verrate. Sie willigt ein, und natürlich verkauft Barkhausen den armen Teufel dann trotzdem an die Gestapo. Auf dem Boden einer Arztpraxis fand er eine Postkarte, die vor dem mörderischen Treiben des Tyrannen Adolf Hitler warnt.
Geschrieben hat sie aber nicht der erwerbslose Trunkenbold. Vielmehr griffen dessen Nachbarn zur Feder. Als der Schreinermeister Otto Quangel (Thomas Eisen) und seine Frau Anna (Christine Hoppe) vom Fronttod des Sohnes erfuhren, begannen sie, auf ihre Weise gegen den Faschismus zu kämpfen. Binnen zwei Jahren, zwischen 1940 und 1942, sollten sie fast 300 Postkarten gegen das Regime schreiben und an verschiedenen Orten der Stadt auslegen. Kommissar Escherich (famos: Matthias Luckey) tappt ewig im Dunkeln. Und wie er tappt! Sein Weg vom gestriegelten Karrieristen zum abgehalfterten Häufchen Elend macht ihn auf der Bühne des Großen Hauses im Staatsschauspiel Dresden zur heimlichen Hauptfigur in der Romanadaption von Hans Falladas »Jeder stirbt für sich allein«. Oder lässt sich als Protagonist doch eher Obergruppenführer Prall (Holger Hübner) identifizieren, der in seiner Bestienhaftigkeit an Nazis vom Kaliber eines Klaus Barbie erinnert?
Die Antwort, die Regisseur Rafael Sanchez in seiner Inszenierung des Widerstandswerkes nahelegt, ist simpel und die größte Stärke dieser Version: Im Mittelpunkt stehen nicht Otto und Anna Quangel, nicht Enno Kluge und Hete Häberle, auch nicht Emil Barkhausen und Prall, sondern die düsteren Zeiten, in denen sie sich alle durchschlagen müssen. Es sind die Jahre des Zweiten Weltkriegs mitten in Deutschland. Während mit dem Holocaust der größte Zivilisationsbruch der Menschheitsgeschichte seinen Lauf nimmt, spielt sich auf den Straßen die heile Welt der Diktatur ab.
Das Ensemble sprüht gerade dann vor Spielfreude, wenn es um den Alltag der Hausgemeinschaft in der Jablonskistraße geht. Eva Kluge streitet sich mit ihrem (von Torsten Ranft herausragend impulsiv gegebenen) Ehemann Enno um Geld, Essen und die Kinder, die linientreuen Persickes lassen keine Gelegenheit aus, Abweichler zu denunzieren, und Trudel Bachmann (Antje Trautmann) tritt aus der kommunistischen Widerstandszelle aus, weil sie sich ihr privates Liebesglück nicht durch Politarbeit verderben lassen will.
Weil Sanchez all diesen vermeintlichen Nebenfiguren aus Falladas Roman von Beginn an viel Raum schenkt, kommt im Parkett dieses beklemmende Gefühl an, dass man sich diesen seit 75 Jahren vergangenen Nachbarschaftsszenen befremdlich nahe wähnt - und sich gewarnt fühlt, gerade in Dresden, das sich derzeit jede Woche mit aus dem Umland in die Stadt gekarrten reaktiven Nationalisten und teilweise sogar beinharten Rassisten konfrontiert sieht.
Acht Schauspieler mimen 30 Figuren aus dem 700 Seiten starken Roman in etwas mehr als drei Stunden. Simeon Meier hat dafür eine verwinkelte Bühne gebaut, deren Einzelteile an samtrot gesprenkelte Sofabezüge aus den 1930er Jahren erinnern. Er integriert sie in eine weitere Protagonistin des Abends: Die clever konstruierte, weil alle Räume ins Hohle und ins Hohe ausnutzende Drehbühne ermöglicht, dass die verschiedenen Schauplätze ohne viel Schnickschnack in die Szenerie geschoben werden können.
Nazi-Deutschland erscheint hier nicht, wie in der neuen und viel kritisierten Kinoverfilmung des Fallada-Stoffes mit Emma Thompson und Daniel Brühl, als zwischen Disneyland-Idyll und Fascho-Horror schwankende Schlacht zwischen Gut und Böse. Denn Sanchez nimmt die literarische Vorlage ernst. Hans Fallada konnte die großen politischen Linien seiner Zeit anhand »kleiner Leute« erzählen und auf den Punkt bringen, was das Leben in einer Wirtschaftskrise oder unter faschistischer Herrschaft bedeutet - und was solch elende Zustände aus zuvor nie durch besondere Grausamkeit aufgefallenen Menschen machen können.
Dieser Mann, der täglich stundenlang am Guckloch seiner Haustür steht und schließlich Otto Quangel auf frischer Tat ertappt, ähnelt in seiner tapsigen »Ich bin hier nur ein aufmerksamer Bürger«-Haltung all den Aushilfshausmeistern und Aufpassomas, die man aus dem Erdgeschoss herkömmlicher deutscher Mietshäuser kennt. Helfershelfer und HJ-Pimpfe, die ihre Menschenverachtung und die Lust am Denunzieren mit dem Spruch »Ich erledige doch nur meinen Job« rechtfertigen, erinnern auch an heutige Handlanger einer repressiven Politik. Die immer wieder an bedrückenden Stellen einsetzende und durchweg in Dur gehaltene Blasmusik der »Banda Internationale« lockert die Schwermut auf, verleitet aber auch leider zu der Annahme, man habe es beim Faschismus mit einem Phänomen zu tun, das sich, wenn überhaupt, in all seinen Varianten nur auf diesem deutschen Fleckchen Erde abspielen könne.
Dabei öffnet Sanchez mit seinem wahnsinnig gut eingespielten Ensemble immer wieder Interpretationsspielräume, die über den rein »deutschen« Charakter des Vorgespielten hinausgehen und das autoritäre Wesen streng hierarchischer Gesellschaften ins Bild setzt. Die darin lebenden Menschen, so zeigen es die vielen Figuren in dieser Fallada-Dramatisierung, streben alle nur nach ihrem kleinen Glück. Der Mensch ist von Natur aus weder gut noch böse, sondern ein soziales Wesen, das nach Anerkennung durch andere Menschen dürstet. Wenn ein Gemeinwesen auf Altruismus beruht, verhalten sich die Leute eben ganz anders, als wenn eine Gesellschaft leistungs- und konkurrenzgetrieben funktioniert.
Erstaunlich an dieser Perspektive ist, dass der Roman zwei Jahre nach der Befreiung vom Hitler-Faschismus erschien. Die Idee ging von Johannes R. Becher aus, dem Schriftsteller und späteren Präsidenten des DDR-Kulturbundes. Er war der Meinung, die Deutschen bräuchten einen »Widerstandsroman«. Darum bot er Fallada an, den Fall von Otto und Elise Hampel zu verarbeiten, von dem er aus Gestapo-Akten erfuhr. Dieses Ehepaar lebte in Berlin-Wedding und schrieb ebenjene Postkarten gegen die Nazis. Innerhalb von vier Wochen schrieb Fallada den Text nieder, bis er 1947 posthum erschien. Gegen die politisch motivierte Zensur konnte er sich also nicht mehr wehren.
Dabei sind gerade diese Stellen der 2011 erstmals vollständig auf Deutsch erschienenen Fassung besonders aufschlussreich. Kaschiert hatten die Behörden etwa, dass die Quangels vor ihrer Anti-Kriegs-Haltung treue Anhänger der Nazis waren. Und diese Szenen sind es auch, mit denen Rafael Sanchez überzeugend darstellt, warum dieser Roman heute wieder so erfolgreich ist: Faschismus gründet seit jeher auf einer eigenen Moral. Und die bezieht sich auf das derzeit wieder beängstigend attraktiv gewordene Prinzip einer homogenen Volksgemeinschaft.
Raphael Gross, der neue Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin, beschreibt das in seinem 2010 erschienenen Buch »Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral« treffend: »Selbst in Situationen, in denen das eigene Interesse es nahegelegt hätte, anders zu handeln, gehorchte eine große Zahl der Deutschen bereitwillig den Imperativen von Mord und Krieg. Indem sie sich wechselseitig durch das System einer partikularen Moral stützten, halfen sie mit, die ungeheuren Verbrechen zu begehen, derer sie als Einzelne nie fähig gewesen wären.« Dass der Kammergerichtsrat die Jüdin Lore Rosenthal in seiner Wohnung versteckt, führt anstatt zur Solidarisierung zum Plünderungsbegehren durch Barkhausen und Kluge, weil »die Juden« bereits systematisch entmenschlicht wurden.
Wenn der noch nicht ganz geläuterte Kommissar Escherich am Ende wiederum dem inhaftierten Otto Quangel mitteilt, dass fast alle Karten brav bei der Polizei abgegeben wurden, scheint darin eine Quintessenz durch, die diesen Abend so sehenswert macht. Dem Dresdener Publikum, das mehrheitlich nichts mit dem Pegida-Mob gemein zu haben glaubt, wird es nicht zu leicht gemacht. Wenn es sich auf Sachez’ Idee einlässt, muss es erkennen: All diese Mitläufer auf der Bühne, das könnten auch wir sein.
Nächste Vorstellungen: 12., 23. und 30. Dezember
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