Kain, ich will doch gar nicht, dass du so bist wie Abel
Der Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann über Luthers unvollendete Reformation, die unverzichtbare vermenschlichende Kraft des Religiösen und das Christsein heute
Herr Drewermann, in den 90ern wurden Sie in internationalen Medien wie »Le Monde« oder »Time Magazine« als »neuer Luther« gepriesen. Viele Katholiken hierzulande sahen das ebenso. Braucht die Welt 500 Jahre nach der Reformation einen neuen Luther?
Dieser gewiss sehr anspruchsvolle Vergleich damals hatte ja vor allem zwei Beweggründe: Enttäuschung und Hoffnung. Dem breiten Unbehagen über die festgefahrenen Institutionen der katholischen Amtskirche stand die Hoffnung auf Aufbruch und Veränderung gegenüber. Insofern gab es in der Tat eine zwingende Verbindung zwischen dem Anliegen Martin Luthers Anfang des 16. Jahrhunderts und meinem eigenen Ansatz Ende des 20. Jahrhunderts. Das zeigt auch, dass das eigentliche Anliegen der Reformation immer noch auf seine Verwirklichung wartet. Und davon sind wir nach 500 Jahren weit entfernt.
Was ist für Sie das eigentliche Anliegen der Reformation?
Luther wollte die Befreiung des Glaubens von kirchlichen und weltlichen Zwängen. Es ging ihm um die »Freiheit eines Christenmenschen«, wie der Titel einer zentralen Schrift Luthers lautet. Das war etwas sehr Wichtiges, das heutigem Denken vollkommen konträr erscheinen muss. Das gegenwärtige Denken favorisiert die Ablösung der Religion durch die Ethik. Ein Konzept, das auf Immanuel Kant zurückgeht. Für den Königsberger Aufklärungsphilosophen war die Vernunft in der Ethik ein hinreichendes Prinzip.
Zeigt nicht der Blick auf internationale, religiös aufgeladene Konflikte, auf Terror, der von sogenannten Gotteskriegern exekutiert wird, dass der Glaube seinen Vertrauenskredit verspielt hat?
Religion scheint in der Tat identisch mit Irrationalismus, Fanatismus, politischer Gewalt. Also sollte man sie wohl am besten aus dem politischen Geschäft entfernen. Das war ja auch 1648, nach dreißig Jahren Krieg, die Logik des Westfälischen Friedens: Cuius regio, eius religio. Nicht mehr die Theologen bestimmen, was geglaubt wird, sondern die Landesfürsten. Nicht der Glaube an Gott ist entscheidend, sondern der an das Göttliche der Obrigkeit. Man betet nur noch die Macht an. Der Mensch zählt nur im Machtkalkül und muss unter diesem Machtkalkül sein Dasein rechtfertigen. Im Kapitalismus muss der Mensch seine Nützlichkeit begründen, wie er durch Arbeit und Leistung beiträgt zur Profitsteigerung, zur Sicherung des Industriestandortes Deutschland im globalen Konkurrenzvergleich. Schon die Kleinen lernen es: Mein liebes Kind, das Leben ist hart, du musst kämpfen, du musst tüchtig sein, fleißig sein, dich dranhalten. Dann bekommst du vielleicht Rente mit 67 oder mit 76.
Und in dieser Bedrängnis, in diesem Konflikt kann Glaube helfen?
Entscheidend war für Luther die Rechtfertigung durch den Glauben. Angesichts des drückenden Bewusstseins der Vergeblichkeit und Endlichkeit von allem, was wir tun, suchen wir eine Antwort, eine Rechtfertigung. Geschichte und Gegenwart zeigen, dass dies allein mit Vernunft und darauf gründender Ethik nicht funktioniert. Was Luther unter Bezug auf Paulus und Augustinus reaktualisierte, stand im Widerspruch zum Humanismus seiner Zeit, wirkt aber heute wie ein Vorgriff auf Psychoanalyse und Existenzialismus: Menschen können nicht gut sein, einfach weil sie wollen, sie sind nicht frei, nur weil sie Vernunft haben. Ganz im Gegenteil: In der Vernunft selbst liegen Angstmomente, die durch keinerlei äußere Beruhigung abgelöst werden können. Tiere erkennen situativ Ängste als Gefahrensignale. Wir Menschen müssen, eben weil wir Vernunft besitzen, mit der Angst als ständiger Begleitung leben. Angst, die dem Wissen um Vergeblichkeit und Endlichkeit entströmt. Aus dieser Angst durch Rechtfertigung des eigenen Daseins einen Ausweg zu suchen und zu finden, ist eine lebenslange Aufgabe.
Luther lehnte eine solche Rechtfertigung durch Taten ab. Aber der Mensch äußert sich in Aktivität, Friedrich Engels schrieb in seiner »Dialektik der Natur« vom »Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« ...
Worum es Luther ging, worum es heute geht: Die verheerende Ideologie, jeder treffe im Grunde als Überzähliger auf den Anderen, den er überzählig machen muss, indem er ihn aus dem Felde schlägt. Das ist eine Spirale, deren Beginn die Bibel als Erzählung schon auf den ersten Seiten bringt - Kain und Abel. Kain, der Ackerbauer, erschlägt seinen Bruder Abel, den Hirten - aus Neid. Brüder werden im Kampf um Ansehen und Berechtigung zu Todfeinden. Im Leben wird es immer so sein, dass der eine besser ist als der andere, sich dadurch mehr oder weniger in seinem Dasein gerechtfertigt sieht. Und die Menschen messen sich natürlich aneinander und miteinander, in der Horizontalen also. Wie anders sollten sie auch, wenn es doch keinen Gott gibt, keine dritte Dimension, die trösten könnte? Keine Stimme, die sagt: Aber Kain, ich will doch gar nicht, dass du so bist wie Abel, ich will überhaupt nicht, dass ihr konkurriert, wer größer und wer besser ist. Deine wichtigste Aufgabe ist, du selbst zu sein. Das ist nur möglich mit einem Gegenüber, das unabhängig und verlässlich Berechtigung, Angenommensein, Geliebtsein vermittelt. Die Natur kann das nicht, die Wirtschaft tut es nicht und die Gesellschaft interessiert es nicht. Deshalb postulierte Luther die Rechtfertigung durch den Glauben.
Was unweigerlich zu der Frage führt, die seit Jahrhunderten ganze Bibliotheken füllt: Existiert Gott?
Dietrich Bonhoeffer hat einmal bemerkt: »Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.« Die Zeit der sogenannten Gottesbeweise ist vorbei, auch wenn Theologen das bis heute nicht begriffen haben. Religion, Theologie sind keine Methoden mehr zur Erklärung der Natur. Dafür haben wir die Naturwissenschaften.
Aber das Religiöse wird gebraucht für die Deutung des Daseins, für das Finden und Begründen von Vertrauen in den Hintergrund der Welt. Theologie als eine Form der Hermeneutik, die der Suche und Vermittlung von Sinn dient. Eine Theologie, die den Ängsten des Menschen, der Ungesichertheit des Daseins Rechnung trägt, seiner radikalen Kontingenz. Denn diese Erklärungslücke im Urgrund des menschlichen Daseins ist in der Tat durch keine Naturwissenschaft zu schließen. Die Naturwissenschaft arbeitet mit der Kontingenz als Erklärungsprinzip, so bei der Evolution. Aber im individuellen Bewusstsein kann Kontingenz Chaos, Verzweiflung erzeugen. Das ist ein Feld, auf dem Religion nie verzichtbar werden wird.
»Du sollst dir kein Gottesbildnis machen«, heißt es im Dekalog. Aber in Ihren Büchern geht es immer wieder gerade um dieses Bild von Gott, das ja da ist, in unendlicher Vielzahl und Vielfalt. Und gerade darum tobt ja auch der Streit seit Jahrhunderten, mit Folter, Terror und Krieg: um das wahre, richtige, gültige, endgültige Gottesbild.
Einerseits ist das biblische Gebot sinnvoll, weil es keine gültigen und schon gar keine endgültigen Bilder von Gott gibt. Der Kampf um das Gottesbild war und ist immer zugleich Kampf um kulturelle Hegemonie und politische Macht. Allerdings hat auch die philosophische Tradition der Theologie abstrakte Begrifflichkeiten in Bilder umgesetzt, als Bilder geformt. Denn Bilder sind immanenter und unverzichtbarer Bestandteil von Religion. Wir können nicht Bezug zu etwas haben, das uns völlig unvorstellbar ist. Selbst wenn die Mystik erklärt, die Reinigung der Seele von allen Vorstellungen sei die Bedingung der Religion. Wir brauchen Vorstellungen, die die Sinne erregen, die die Fantasie beleben, die Erfahrungen vermitteln, die anknüpfen an all das, was wir kennen und erlebt haben.
Welche Inhalte von Gottesbildern besitzen religionsübergreifend die größte Kraft und Bedeutung?
Bei der Suche nach Geborgenheit ist das exemplarisch das Bild der Mutter. Es gab immer wieder Gottheiten, vorgestellt auf mütterlichem Hintergrund. Nach der patriarchalen Verschiebung kam dann das Bild des Vaters, der väterlichen Macht. Das war schon sehr viel gebrochener und zwiespältiger. Wir Menschen suchen - bewusst oder unbewusst - einen von Ambivalenz freien Ursprung, in dem wir sein dürfen, dem wir das Dasein verdanken. Und dieser Ursprung ist allemal mütterlich gefärbt. Nun geht es in Rede und Schrift der Religionen nicht immerzu um die Mutter. Es gibt andere Symbole, die diesen Bezug vermitteln. Zum Beispiel das Wasser, das die Taufriten, die Reinigungsriten prägt. Was sich auch mit dem Seinsgeschichtlich-Biologischen erklärt: Aus dem Wasser heraus hat sich das Leben entwickelt. Es ist eine Erinnerung an die Welt vor etwa 300 Millionen Jahren, als dem Leben erstmals der Sprung vom Meer ans Festland gelang. Das alles ist im Tiefengedächtnis unserer Psyche nach wie vor erhalten. Und daran knüpfen die Religionen an, indem sie aus menschlichen Erfahrungsräumen über gewaltige Zeiträume auf unserer Erde Bilder des Ewigen formen. Immer wieder bestätigend, beruhigend, versichernd, mit der Botschaft, einfach sein zu dürfen, es nicht verdienen zu müssen, es nicht erkämpfen zu müssen. Das Leben als ein Geschenk, das in Dankbarkeit angenommen werden soll, im Miteinander und nicht im Gegeneinander.
»Sucht, dann werdet ihr finden«, sagt Jesus in der Bergpredigt. Die Suche von Menschen nach diesem Urgrund des Daseins, mithin nach Gott, führt oft in die Enttäuschung, in die Abkehr, da das Ergebnis, das Finden eben, ausbleibt. Ist also der Weg das eigentliche Ziel?
Ein großer Gottsucher im 17. Jahrhundert war der französische Mathematiker und Religionsphilosoph Blaise Pascal. Er sagte einmal sehr schön und er legte die Worte Gott selbst in den Mund, in der Rede an den Menschen: »Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht schon gefunden hättest.« Diese Worte verweisen auf eine Bedürftigkeit und eine Sehnsucht, die zu unserem Wesen gehören und die Gegenwart des Gesuchten subjektiv als unabdingbar erfahrbar machen.
Wir können, und das ist eine Möglichkeit, Gott entdecken als Hintergrund einer unverdienten Geschenkhaftigkeit des Daseins, einer Bestätigung in allem. Wenn das so ist, kann jede Begegnung, die uns menschlich Wertvolles vermittelt - Liebe, Freundschaft, Treue, Engagement, Verantwortung, Güte, Größe, Mitleid, Erbarmen, Verständnis - ein Schritt in diese Erfahrungsrichtung sein. Die andere Möglichkeit: In großer Einsamkeit, in seelischer Not, kann unsere Psyche so arbeiten, dass sie das dringend Benötigte wie in einem Reflex an sich zieht, gleich dem heftigen Luftholen bei Atemnot. Dann kann es sogar zu sogenannten Gotteserfahrungen kommen.
Das Neue Testament erzählt vom Erlebnis des Paulus. Erbittert und verbittert verfolgt er die Christen, bis er vor Damaskus - vermutlich in einem epileptischen Anfall - seine eigene Gebrochenheit, Hilflosigkeit, Mangelhaftigkeit entdeckt. Und das ganze Bild dreht sich: Der Mann aus Nazareth hat völlig recht. Die Menschen brauchen - wie er, Paulus - eine Hand, die sie aufrichtet. Und Paulus wird der Apostel Jesu. Das ist seine Gotteserfahrung, eine Gnade im Angesicht totaler Hilflosigkeit.
Gilt eine solche Erfahrung, nennen wir sie Gotteserfahrung oder religiöse Erkenntnis, nur für gläubige Menschen? Sind Atheisten oder Agnostiker immun gegen derartige Einbrüche numinoser Einsicht?
Das Paradoxe ist ja, dass die Christen in der Antike als Atheisten galten, weil sie ablehnten, was man im römischen Kaiserkult unter Gott verstand. Sie wollten den Missbrauch des Göttlichen zur Sicherung weltlicher Macht nicht länger. Sie wollten die Gewalt des römischen Militärs nicht länger. Sie wollten Prunk und Pomp des römischen Kolonialismus nicht länger. Wenn das Atheismus heißt, kenne ich heute viele Atheisten, mit denen ich mich enger verbunden fühle als mit vielen Christen. Die meisten, die sich Marxisten und Kommunisten nennen, sind in all diesen Punkten völlig eins mit dem Protest der Christen, der sie damals vor 1900 Jahren zu Atheisten stempelte. Mit anderen Worten, was wir Atheismus nennen, kann eine Bewegung auf dem Weg zur Bewahrheitung und Gültigmachung religiöser Inhalte sein. Man muss an etwas glauben, um dem Bestehenden zu widersprechen, man muss das Bestehende transzendieren mit einer Hoffnung. Man muss die Wirklichkeit widerlegen durch eine Vision.
Nach dieser Lesart wäre der britische Astrophysiker Stephen Hawking, der Gott bei der Entstehung des Universums für überflüssig erklärt, der neue Paulus.
Hawking ist ein brillanter Wissenschaftler und Forscher, aber er hat keine Vision. Er glaubt tatsächlich, er könne als Naturwissenschaftler mit Hilfe Einsteins und der Quantenphysik eine Formel abliefern, die uns die ganze Welt erklärt, eine Theory of Everything. Doch der Zufall lässt sich nicht in eine mathematisch-gesetzliche Linearität zwingen. Eine universalisierte Kosmologie versagt schon bei der Frage eines Kindes: Warum gibt es mich?
Das Geheimnis des Lebens bleibt der Hintergrund alles Religiösen. Und was sich heute Atheismus nennt, gründet im Widerspruch zu einer Theologie, die immer noch glaubt, sie könne in Konkurrenz zu den Naturwissenschaften die Welt besser erklären. Oder im Widerspruch zu einer Theologie, die immer noch ungerechte Machtverhältnisse absegnet oder die immer noch die Ausbeutung von Menschen durch Menschen als Gottes Willen ideologisiert ... Religion ist im Kern Energie des Widerspruchs, eine Widerlegung der Welt, wie wir sie vorfinden in ihrer Ungnädigkeit und Unbarmherzigkeit. Sie ist ein Appell, uns zu vermenschlichen inmitten einer Natur, die nicht menschlich sein kann, und inmitten von Gesellschaft, die noch oft nicht menschlich sein will. Dafür brauchen wir Religion. Und die Atheisten machen dabei klar: Das, was wir vorfinden und aus der Geschichte als Religion übernommen haben, erfüllt diese Aufgabe überhaupt nicht.
Also eine grundstürzende Erneuerung des Glaubens, mehr Revolution als Reformation?
Vor 1900 Jahren hatten die Christen eine Vision, die revolutionär war. Aber sie haben dann Entscheidendes als vermeintlichen Ballast über Bord geworfen, um die Verkirchlichung und Dogmatisierung des Glaubens, die Priesterherrschaft über die Glaubenden zu erleichtern und zu sichern. Das Menschlich-Allzumenschliche musste dem Klerikal-Numinosen weichen.
Verworfen wurde die Anerkenntnis, dass die Religion tief in der Seele der Menschen verwurzelt ist. Stattdessen setzte man auf einen von außen oktroyierten Gott und kappte die genuinen Bindungen und Verbindungen mit der menschlichen Psyche. Das betrifft nicht nur das Christentum, sondern alle Offenbarungsreligionen. Es heißt: Gott hat gesagt, was wahr ist, und wir können deshalb nicht irren, wenn wir das sagen, was in unseren Schriften steht. Und jede Heilige Schrift bekämpft dann die andere Heilige Schrift. Der eine Gott wird zersplittert in die verschiedenen Offenbarungsformen.
Anlässlich des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit, das vergangenen Monat zu Ende ging, erklärte Papst Franziskus, dass die Angehörigen verschiedener Religionen Dinge unterschiedlich sehen. Doch gelte für alle, dass sie Gott zwar auf je anderen Wegen suchen, aber im Wesentlichen übereinstimmen, weil sie an die Liebe glauben. Wenn der Papst damit einräumt, die Wahrheit sei auch in anderen Religionen zu finden, wäre das doch ein Schritt der Umkehr.
Der Monotheismus wird weitgehend identifiziert mit Absolutismus und ideologischer Intoleranz. Wenn Gott zu Israel gesprochen habe, könne er nicht zu Mohammed gesprochen haben. Und wenn er sich in Christus offenbart habe, sei Mohammed überflüssig. Diese Streitereien gehören leider zur Theologiegeschichte. Sie missverstehen, das Gott jenseits aller Bilder ist. Was im Grunde auch allen drei monotheistischen Religionen klar ist. Sie müssten also ihre apodiktischen, dogmatischen, absoluten Aussagen relativieren. Und gemeinsam anerkennen, dass wir Menschen Bilder, Begriffe, Vorstellungen benötigen, um überhaupt über etwas reden zu können. Die Bilder selber liegen im Menschen, sie sind nicht Gott. Wir dürfen also auch Gott damit nicht identifizieren. Die Muslime sprechen von den tausend Namen Allahs. Es sind eben nur die Namen, die wir Gott geben.
Dieses begreifend, könnte der Dialog der Religionen mit Sinn erfüllt werden. Auf poetischer Grundlage, nicht auf dogmatischer. Die religiösen Gründungsbücher sind Literatur, geschaffen von Menschen, die sich Gott nahe fühlten oder ihm nahe sein wollten. Sie sind nicht als Kriegsbücher geschaffen, auch wenn sie von Theologen dazu gemacht wurden.
Vor diesem Anspruch an ein religiöses Miteinander und angesichts der Jahrzehnte Ihres Kampfes um Veränderung innerhalb und, seit 2005, außerhalb der katholischen Kirche: Was bedeutet für Sie, Herr Drewermann, Christsein heute?
Theologisch heißt Christsein zu glauben, dass Jesus der Messias war. Jeder Jude wird indes sagen: Das kann er nicht gewesen sein, denn wenn der Messias kommt, ändert sich die Welt. Doch sie ist nur schlimmer, nicht anders geworden. Ihr widerlegt die eigene Botschaft. Und da haben sie recht. Jesus wollte etwas ganz Einfaches: Menschlichkeit für alle und mit allen. Und wer dieses Wagnis versucht, hat Jesus verstanden.
Aber der Glaube an Jesus als Sohn Gottes trennt doch Christen definitiv von den anderen abrahamitischen Religionen.
Der protestantische Theologe Paul Tillich schrieb einmal: »Glaube ist das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht, ist ein Akt der ganzen Person.« Jesus als Sohn Gottes wird von vielen Christen als objektive Wahrheit gesehen, die leider Juden und Muslimen entgeht. Doch es gibt auch eine alternative Sicht. Ich kann sagen, für mich ist Jesus Gottes Sohn, weil seine Botschaft mich unbedingt angeht. Wer das für sich annimmt und danach lebt, ist ein Christ. Anders nicht. Es geht nicht um Dogmen, um Theologie, nicht um Expertentum in Sachen Eucharistie und Transsubstantiation.
Natürlich bleiben geschichtliche Unterschiede zwischen den Religionen. Jesus hat keine Schlachten geschlagen, um sich durchzusetzen, er ist ans Kreuz gegangen. Das bleibt eine Differenz, die Christen auch betonen sollten in der Diskussion. Aber das ist keine Auseinandersetzung mehr um das richtige Gottesbild. Was Jesus anbietet, ist, dass wir die menschliche Hilflosigkeit tiefer und klarer sehen, als es jede Gesetzesreligion könnte. Das ist eine Einladung. Dass Christen es bis heute als Abgrenzung interpretieren, dass sie im Anschluss an die Reformation ein 500-jähriges Spektakel konfessioneller Streitigkeiten veranstalten, zeigt ein notorisches Nichtbegreifen der Botschaft des Galiläers.
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