Sparta Lichtenbergs Kampf um die Tradition

Folge 109 der nd-Serie »Ostkurve«: Fußballer von Sparta Lichtenberg kämpften in Berlin einst gegen Faschisten, heute um ihre Tradition

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 7 Min.

Die friedlich blickenden schottischen Hochlandrinder grasen im Lichtenberger Landschaftspark »Herzberg« gemächlich über die Wiese, ein daneben stehender »Spielplatz für Zauneidechsen« bittet die in den Wintertagen nur selten vorbeikommenden Jogger um Aufmerksamkeit. Nichts weist mehr darauf hin, dass auf dem heutigen Weidengelände vor dem Zweiten Weltkrieg eines der wichtigsten Stadien des Berliner Arbeitersports stand. 1923 war zum Beispiel ein symbolisches Jahr. Rund 10 000 Zuschauer bejubelten ein Fußballspiel zwischen einer ausgemergelten Berliner Arbeiterauswahl und gut genährten Sowjetsportlern (0:6) als Zeichen der internationalen Solidarität. Die Polizei musste aufgrund des Andrangs das Stadion absperren, Leute sollen sogar von den angrenzenden Häuserdächern zugesehen haben.

Im selben Jahr lauschten auf besagten Tribünen Tausende den Worten des Kommunisten Ernst Thälmanns, als dieser auf einer Kundgebung des Roten Frontkämpferbundes die Menge anheizte. Das Stadion Lichtenberg war eng mit der Identität des damals proletarischen Viertels verknüpft. In der DDR nutzte man es jahrzehntelang dennoch nur als Zeltlager, bis es nach der Wende verfiel und 2013 endgültig abgetragen und in den Herzberg-Park eingegliedert wurde. Doch ist mit dem Arbeiterstadion auch der Berliner Arbeitersport verschwunden?

Die Pflege von Traditionen ist eine komplizierte Sache, weiß Werner Natalis zu berichten. Der 72-Jährige ist seit neun Jahren Präsident von SV Sparta Lichtenberg. Dem Verein verbunden ist er seit 1980. Die breite Nase und der weiße Schnauzbart stechen aus dem rundlichen Gesicht heraus, die scharfen Augen durchdringen jeden Gesprächspartner. »Die Tradition ist eher eine Sache der Alten, die Neumitglieder wissen gar nichts mehr von unserer Geschichte«, beklagt sich Natalis, der bis zu einem Herzinfarkt selbst als Schiedsrichter auf dem Rasen gestanden hat.

Sparta wurde 1911 von einem 17-jährigen Schriftsetzer gegründet. Die Lebenserwartung von Männern betrug zu dieser Zeit in Lichtenberg lediglich 45 Jahre. In den 20ern avancierte der Klub zu einem der erfolgreichsten Arbeitersportvereine Berlins. 1931 erreichten die Fußballer gar als Berlinmeister das Deutschlandfinale des Rotsports, eines der KPD nahestehenden Sportverbandes. Im Wedding unterlagen sie jedoch vor 15 000 Zuschauern mit 2:3 knapp dem Dresdner Sportverein 1910. Mit den Nazis kam dann das Vereinsverbot und der Zwang zur Neugründung unter anderem Namen.

Sparta spielt heute in der 2. Landesliga. Doch mehr als der zweite Tabellenplatz ist momentan nicht drin. Auch das Zusammengehörigkeitsgefühl ist ein anderes geworden. »Die Leute wollen Sport treiben, aber die Verbundenheit zum Verein ist gering«, sagt Natalis. Es sei sogar schwer gewesen, Mitglieder zur Vorbereitung der Weihnachtsfeier zu motivieren, beklagt er kopfschüttelnd.

Dabei steht für den geselligen Teil des Sportlerlebens eine geräumige Gaststätte auf dem Sportplatz Fischerstraße zur Verfügung. Unweit des Rummelsburger Sees hat Sparta hier sein Zuhause, samt Rasenplatz, Kunstrasenplatz sowie einem dunkelgrauen Flachbau, in dem sich neben dem Essenssaal auch Umkleidekabinen und Vereinsräume befinden. An der Wand hängt ein Großbildfernseher, dazu eine Dartscheibe, an der holzvertäfelten Theke gibt es Buletten für zwei Euro und die Bratwurst für 2,50 Euro. Draußen ist das Logo mit der rot-weiß-gestreiften Fahne angebracht.

30 Jahre lang hatte der Verein einen Rasenplatz an der Kynaststraße nahe des Ostkreuzes benutzt, doch aufgrund der Umbauarbeiten am Bahnhof musste der Klub weichen. Die Stadt stellte 2008 den neuen Platz als Alternative zur Verfügung. »Den alten Spartanern war der Umzug etwas schwer gefallen, aber wir haben uns verbessert«, sagt Natalis zufrieden.

Den größten Wandel erlebte Sparta jedoch nicht mit seinen Spielstätten. Für den Verein war Sport einst eng mit der widerständigen Arbeiteridentität verknüpft. Ende der 1920er Jahre bildeten die Fußballer eine Kapelle, die bei Demonstrationen mit dem KPD-nahen Rotfrontkämpferbund mitlief. Viele bekannte Antifaschisten und Widerstandskämpfer fanden sich unter den damals rund 600 Sportlern, darunter Werner Seelenbinder, Johannes Zoschke, Ernst Grube und Paul Zobel.

»Heute interessiert der Arbeiterbezug keinen mehr«, sagt Natalis überzeugt. Der Großteil der jungen Spieler seien zwar Auszubildende, dazu auch ein paar Flüchtlinge, doch die würden nach den Spielen alle immer gleich nach Hause fahren. Die Alten, die sich noch für die Geschichte interessieren, sterben weg. Die Probleme haben sich geändert: Rund 600 Mitglieder hat der Verein in sechs angebotenen Sportarten von Tischtennis bis Kegeln immer noch. Doch heute kämpft die Führung nicht mehr gegen Faschisten, sondern gegen die Überalterung des Klubs. »Wenn wir nicht in allen Bereichen Nachwuchs bekommen, wird es schwer«, sagt Natalis. Auch finanziell lief es früher besser. In der DDR hatte man als Betriebssportgemeinschaft noch den Berliner Rundfunk als Sponsor, dem Verein ging es verhältnismäßig gut. Heute kämpft er darum, den Hauptsponsor zu halten.

Die Chance für politisch aktivere junge Sportler ist dabei so groß wie lange nicht mehr. Durch die Arbeit mit Flüchtlingen in gemeinsamen Fußballteams sammelt die Jugendabteilung praktische antirassistische Erfahrungen, resümiert Natalis. Der Zulauf an jungen Asylsuchenden sei enorm. Er weist aber sogleich daraufhin, dass erst kürzlich wieder das Ernst-Thälmann-Denkmal im Prenzlauer Berg beschmiert wurde. »Wie soll man die Gegenbewegung zu diesem allgemeinen Zeittrend in so einen kleinen Verein tragen?«, fragt er resigniert. Einen Grund für den Traditionsverlust sieht der Präsident auch in den historischen Erfahrungen. Allein in der DDR hatte es fünf Namensumbenennungen gegeben. Nach der Wende zog ein Großteil der Spieler in den Westen, man musste wieder alles neu aufbauen. »Die Systemwechsel haben eine Beständigkeit der Tradition erschwert«.

Vermutlich ist es mehr als das. Das denkt zumindest der Sporthistoriker Christian Wolter, der ein Buch über den Arbeiterfußball in Berlin und Brandenburg geschrieben hat. »Ein Arbeitersport wäre heute nicht mehr zeitgemäß, es ist etwas Abgeschlossenes«, erklärt er im »nd«-Gespräch. Zwar gibt es immer noch Verbände, die sich in besagter Tradition verorten wie der deutsche Arbeiterfahrradbund Solidarität oder der österreichische Verband ASKÖ - diese seien jedoch eher Randphänomene.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die alten Nazisportvereine verboten und antifaschistisch gesinnte Funktionäre bauten die Verbände neu wieder auf. Der DDR-Führung waren jedoch die traditionell demokratischen Strukturen ein Dorn im Auge. »Man wollte nicht, dass Vereine über ihre Belange selbst bestimmen können«, sagt Wolter. Der ostdeutsche Sport wurde nach sowjetischem Vorbild samt dazugehörigen Hierarchien organisiert. In Westdeutschland wollten die Funktionäre dagegen keine Zersplitterung mehr wie in den Vorkriegsjahren und organisierten sich kollektiv im Deutschen Fußballbund (DFB). Es galt für die internationalen Turniere auf alle in Frage kommenden Spieler zugreifen zu können.

Neben dem bürgerlichen DFB gab es in der Vorkriegszeit als Alternative für die Arbeiter den sozialdemokratisch geprägten Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB). KPD-Anhänger versuchten, diesen zu unterwandern, wurden dafür aber 1928 ausgeschlossen. In der Not schufen sie die »Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit« (Rotsport) als eigenen Verband, Sparta Lichtenberg trat als einer der ersten Vereine bei.

Berlin war einer der wenigen Orte der Weimarer Republik, indem die Kommunisten gegenüber den Sozialdemokraten in der Mehrheit waren. Die Märkische Spielvereinigung, die den örtlichen Arbeiterfußball organisierte, schloss sich nach der Spaltung direkt dem Rotsport an. Die sportliche Entwicklung war symptomatisch für die politische: Nicht die Faschisten galten ihnen als Gefahr, sondern die linke Konkurrenz. »Es wurde viel Energie aufgewendet, um sich gegenseitig zu bekämpfen«, sagt Wolter.

Heute gibt es zwar auch wieder linke Vereine, diese seien jedoch eher von Studenten geprägt. Wolters Fazit: »Man sollte keine Kontinuitäten konstruieren, wo keine sind«. Die alten Arbeitersportler könnten mit der heutigen Stadionatmosphäre vermutlich wenig anfangen, starke Disziplin und idealisierte Vorstellungen waren den alten Verbänden inhärent. Die Leistungsklassen wurden beispielsweise im Berliner Arbeiterfußball 1922 für einige Jahre abgeschafft und Spielernamen wurden in Spielberichten nicht genannt. Fanfahnen und Zwischenrufe waren verpönt. Das Spiel sollte im Vordergrund stehen und nicht der Starrummel. Geld und Preise gab es keine. Solidarisch sollte sich für beide Mannschaften gefreut werden - für nicht wenige war das zu langweilig.

Vieles aus den alten Tagen ist mittlerweile in Vergessenheit geraten, doch mit aufmerksamen Blick lassen sich noch heute Spuren des Arbeitersports entdecken. Eine befindet sich mit der nach dem Antifaschisten benannten Willi-Sänger-Sportanlage in Treptow-Köpenick nahe der Spree. Dort trug Anfang des 20. Jahrhunderts zudem Fichte, der damals größte Arbeiterverein der Stadt, seine Spiele aus. Nach Wolters Recherchen gibt es heute im Raum Berlin nur noch 25 Vereine, die ihre Wurzeln im Arbeiterfußball haben. »Zumindest unser alter Schlachtruf ist uns geblieben: Sparta Ahu!«, sagt Spartas Vereinspräsident Werner Natalis mit herausforderndem Blick. Viel mehr scheint nicht übrig zu sein.

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