Ein Mord, der nicht aufgeklärt wurde
Politische Konsequenzen in der Armenierfrage werden vom türkischen Staat auch zehn Jahre nach den Schüssen auf Hrant Dink verweigert
Die Macher von «Agos» waren stark beschäftigt in diesen Tagen. Die in Istanbul in armenischer und türkischer Sprache erscheinende Wochenzeitung hatte neben allem anderen, was die Menschen in der Türkei derzeit umtreibt, noch eines schmerzlichen Jahrestages auch in eigener Sache zu gedenken. Am 19. Januar 2007, vor genau zehn Jahren, wurde der Gründer des Blattes, der zur armenischen Minderheit in der Türkei zählende Publizist Hrant Dink, auf offener Straße erschossen.
Es war eindeutig ein politischer Mord, begangen von einem noch jugendlichen, aber bereits fanatischen Nationalisten auf einem Höhepunkt erneuter antiarmenischer Pogromstimmung in der Türkei. Deren eigentliche Ursache ist die bis heute andauernde Leugnung der 1915/16 auf dem Boden des Osmanischen Reiches verübten Verbrechen an den Armeniern als Volksgruppe - ganz gleich ob man das «Völkermord» nennt, wie seit vorigem Jahr offiziell auch die EU, oder nicht; und es ist in dieser Sache prinzipiell ebenso wenig entscheidend, ob durch Hunger, Seuchen oder von Soldaten Massaker nun 1,5 Millionen Armenier starben, wie aus armenischen Quellen verlautet oder «nur» 500 000 Menschen, wie man es in türkischen Schulen lehrt.
Man lehrt dort außerdem relativierend und damit entschuldigend, dass ja Krieg geherrscht habe, in dem auch viele Türken gestorben seien. Dieser staatlich verordnete historische Zynismus überdauerte das untergegangene Osmanische Reich in voller Hässlichkeit bis zum heutigen Tage und gehört in der Republik Türkei noch immer zur Staatsraison. Dies ist in erster Linie Auslöser für den Mord an Hrant Dink gewesen. Es bestehen keinerlei Zweifel, dass ein 16-jähriger Fanatiker die tödlichen Schüsse abgab. Doch es gab Hintermänner, mit deren Komplizenschaft sich die türkische Justiz nur widerwillig beschäftigte. Konsequent aufgearbeitet hätte das Verbrechen Anlass geboten, die staatliche Haltung der türkischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber der armenischen Minderheit endlich neu zu formulieren. Aber nichts von dem geschah.
Acht Kilometer lang soll sich der Trauerzug damals durch Istanbul gezogen haben; die Repräsentanten des türkischen Staates aber waren fern geblieben. Recep Tayyip Erdogan, damals Ministerpräsident, zog es vor, zur selben Zeit einen Tunnel einzuweihen, auch Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer mied die Trauerveranstaltung. Für den türkischen Literaturnobelpreis-Träger Orhan Pamuk war das ein Indiz, die türkische Regierung für den Mord mitverantwortlich zu machen. Noch mehr aber anderes: Dink hatte wegen «Beleidigung des Türkentums» vor Gericht gestanden.
Seine öffentlichen Erklärungen zum Thema, in denen er die Verbrechen von 1915/16 ausdrücklich als «Völkermord», bezeichnete, erfüllten zweifellos diesen «Tatbestand». Doch anstatt das Verfahren zum Anlass zu nehmen, sich mit dessen Fragwürdigkeit auseinanderzusetzen, war, während Pamuk den Verzicht des Türkentumparagrafen aus dem Strafgesetzbuch forderte, von türkischen Medien und Politikern eine öffentliche Pogromstimmung gegen Dink losgetreten worden.
Dink wollte ausdrücklich den Rechtsweg beschreiten. Als er ermordet wurde, waren noch mehrere einschlägige Prozesse gegen ihn anhängig, ebenso wie eine Klage von ihm vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen den türkischen Staat. Der EGMR entschied die Klage nach dem Mord am Kläger nicht mehr. Auch der türkischen Gerichtsbarkeit schien Dinks Tod gelegen gekommen zu sein. Zwar erhielt der Mörder eine hohe Gefängnisstrafe, eine posthume Revision der Urteile gegen Dink gab es aber bis heute nicht.
Im Gegenteil: Der türkische Präsident scheint nicht bereit, das nationalistische und im konkreten Fall antiarmenische Element aus seinem politischen Portefeuille zu streichen. Und nachgeordnete politische Gremien, zu denen in der Türkei inzwischen auch das Parlament gehört - eifern ihm nach. So wurde vorige Woche Garo Paylan von der Demokratischen Partei der Völker, ein Parlamentsabgeordneter armenischer Nationalität, von mehreren Sitzungen ausgeschlossen, nur weil er in einer Rede von «Verbrechen an den Armeniern» gesprochen hatte. Die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) forderte die türkische Justiz am Mittwoch auf, den Fall «endlich lückenlos» aufzuklären. Von Beginn an habe es Hinweise gegeben, dass der Mord an Dink nicht die Tat einer kleinen Gruppe von Fanatikern war«, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr, am Dienstag in Berlin.
Die große verbale Unterstützung in Westeuropa für das Anliegen der Armenier wie im Vorjahr ist längst wieder abgeebbt. Deutschland macht da keine Ausnahme. Kanzlerin Angela Merkel scheute sich nicht, den Beschluss des Bundestages, die Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren als Völkermord zu bezeichnen, selbst zu entwerten. Hatte sie bereits bei der Abstimmung am 2. Juni gefehlt, so erklärte sie dem wütenden Erdogan anschließend auf dessen Vorhaltungen auch noch, dass der Beschluss des Bundestages keinerlei praktische Folgen habe. So ist es denn auch gekommen.
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