Gam Saam heißt goldener Berg

David H.T. Wong zeichnete ein Comic-Epos über 200 Jahre chinesischer Einwanderung in Nordamerika

  • Kerstin Ewald
  • Lesedauer: 4 Min.

Das »Iron Chink« - das »Eisernes Schlitzauge« revolutionierte Anfang des 19. Jahrhunderts die nordamerikanische Fischindustrie. Wo vorher rund 40 Arbeiter und Arbeiterinnen in einer stinkenden Lache aus Fischabfällen standen, Lachse säuberten, filetierten und in Dosen verpackten, ratterten nun die Bänder und Messer des gusseisernen Kolosses. Da viele der Fischarbeiter aus China eingewandert waren, hatte der Erfinder die Maschine tatsächlich unter der eingangs erwähnten abfälligen Bezeichnung für Asiaten patentieren lassen. Heute stehen Exemplare dieses Typs in historisch-technischen Museen. Sie symbolisieren die harten Arbeitsbedingungen chinesischer Wanderarbeiter und Wanderarbeiterinnen in Nordamerika - und den Rassismus, der ihnen mitunter mit brachialer Gewalt entgegenschlug.

Der kanadische Architekt David H.T. Wong erzählt in seinem Comic die Geschichte der chinesischen Einwanderer über fünf Generationen hinweg. Die chinesische Migration begann während der Opiumkriege Mitte des 19. Jahrhunderts und der darauffolgenden Hungersnöte. Voller Vorfreude und Hoffnung hatten die Reisenden ihren Ankunftsort in Kalifornien »Gam Saam«, goldener Berg, getauft.

In den USA wie in Kanada fanden sie sich jedoch alsbald am untersten Ende der Einwandererhierarchie wieder, etwa bei den Indigenen. Ihnen blieben die harten, entbehrungsreichen und mies bezahlten Arbeiten vorbehalten. Sie legten die kalifornische Sümpfe trocken, bauten an der transpazifischen und kanadischen Eisenbahn mit und errichteten komplizierte Brückenkonstruktionen. Ohne dafür ausgebildet worden zu sein, sprengten sie Tunnel durchs Gebirge. Viele Arbeiter kamen dabei zu Tode.

David H.T. Wong ist selbst Nachfahre chinesischer Einwanderer. Als kleiner Junge hatte seine Großmutter ihm die Geschichten von verunglückten chinesischen Bahnarbeitern erzählt, die von Indianern der Rocky Mountains gerettet worden sind. Als er Jahrzehnte später sein Geschichtsprojekt zu chinesischen Einwanderern begann, fand er tatsächlich Fälle von indigenen »Samaritern« belegt. In seinem Comic stürzt ein Sprengarbeiter so tief in einen Abgrund, dass keiner seiner Kollegen mit dessen Überleben rechnet. Als der Mann nach Monaten indianischer Obhut wieder im Arbeitscamp auftaucht, glauben die Kollegen an ein Wunder.

In der kanadischen Gesellschaft war bis dato wenig über die chinesischen Traditionen in Nordamerika gesprochen worden. Der Comiczeichner Wong wünschte sich aber gerade von den jungen Kanadiern und Kanadierinnen mit chinesischen Wurzeln eine intensivere Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, den Kämpfen der Vorväter, die so hart um Teilhabe am Leben in der nordamerikanischen Gesellschaft kämpfen mussten.

Im Herbst vergangenen Jahres weilte der Autor auf Lesetour durch Deutschland. Seinem Publikum berichtete er, wie er mitunter eine Woche lang mit einer einzigen Zeichnung rang, im Bemühen, jedes Detail so authentisch wie möglich darzustellen. Immer wieder suchte er Archive auf und studierte historische Fotos. Von seinem Architektenjob hatte er sich drei Jahre Auszeit für sein Buchprojekt genommen. Ihm zur Seite stand ein fachkundiges Team von Beratern.

Die Abneigung gegen chinesische Zuwanderer, der sogenannte Anti-Orientalism, war in den USA und in Kanada an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert weit verbreitet. Allerlei Missstände wurden den Chinesen angelastet: Epidemien, Drogenmissbrauch, Übervölkerung wie auch Lohndrückerei. In der Tat waren Chinesen von den Bossen immer wieder als Streikbrecher und Billigarbeiter missbraucht worden; daher waren sie auch bei den Gewerkschaften unbeliebt.

Zu jener Zeit eingesetzte staatliche Kommissionen befanden die chinesischen Arbeitskräfte von da an für überflüssig, denn es stünden nun genügend weiße Arbeitskräfte zur Verfügung. Dies führte - in den USA 1882, in Kanada einige Jahre später - zu speziell auf Chinesen und Chinesinnen ausgerichtete rassistische Einwanderungsgesetze. Sie bedeuteten zeitweise die völlige Abschottung Nordamerikas gegenüber chinesischer Zuwanderung.

Auch wenn Wong während seiner Arbeit vor allem an ein kanadisches Publikum gedacht hat, so richtet sich sein Buch nach dem Amtsantritt von Donald Trump auch an Leser und Leserinnen in den Vereinigten Staaten und nicht zuletzt - angesichts des wachsenden Einflusses von Populisten in der EU - an interessierte Zeitgenossen auf dem europäischen Kontinent. Parallelen zu heute drängen sich auf. Wie vor 200 Jahren wirken auch in unseren Zuwanderungsgesellschaften inhumane Funktionalisierungen, Stereotypisierungen von Migranten, hemmungslose Ausbeutung und rassistische Gewalt - gemildert durch überraschende Akte von Hilfsbereitschaft und Solidarität unter den Entrechteten. Wie in der von Wong erzählten Geschichte setzt sich auch in heutigen Regierungspraktiken konkurrenzkapitalistisches Denken durch, welches in menschenrechtsverletzende Gesetze gegenüber Flüchtlingen gegossen wird.

Etwas langatmig muten die akademischen Vorreden im Buch an. Zudem hetzt der Autor ab dem Zweiten Weltkrieg etwas kurzatmig durch die Jahrzehnte. Ungeachtet dessen gewährt dieser kenntnisreiche und unterhaltsame Comic tiefe Einblicke in die chinesisch-amerikanische Geschichte.

David H.T. Wong: Flucht zum Goldenen Berg. Ein historischer Comic über die Geschichte der Chinesen in Nordamerika. Aus dem Amerikanischen von Anton Katja Cronauer. Verlag Edition AV. 243 S., geb., 19,90 €. Abb. aus dem Buch

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