Reiche müssen keine Brandsätze werfen
Der Autor und Dramaturg Bernd Stegemann über Populismus von rechts, von links - und aus der politischen Mitte
Herr Stegemann, ist Martin Schulz der deutsche Bernie Sanders?
Das lässt sich schwer beurteilen, weil er als Vertreter der Exekutive auf der großen Bühne noch nicht in Erscheinung getreten ist. Eigentlich ist Schulz ein klassischer Brüsseler Bürokrat und steht insofern im Zentrum des Problems, aus dem heraus er sich nicht als Anti-Establishment-Politiker inszenieren kann.
Trotzdem haben seine ersten Auftritte als SPD-Kanzlerkandidat einen Hype um ihn ausgelöst.
Faszinierend, dass es offenbar so leicht ist, den Meinungstrend zumindest kurzfristig positiv für sich zu gestalten. Es scheint, als hätten viele Wähler darauf gewartet, dass ein Sozialdemokrat auftritt und sagt, die SPD müsse die Partei der »normalen Leute« sein und nicht die der Besserverdienenden, der Eliten und der Konzerne. Und er spricht die einfache Wahrheit aus, dass es in Deutschland sozial ungerecht zugeht. Erschreckend daran ist, wie lange das nicht mehr glaubwürdig von der SPD gesagt worden ist.
In seinem soeben erschienenen Buch »Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie« (Verlag Theater der Zeit, 180 S., br., 14 €) analysiert Bernd Stegemann den politischen Kampfbegriff des Populismus und zeigt: Man kann ihn auch nutzen, um die neoliberale Ideologie zu sezieren. Stegemann ist Professor für Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin. In deren
Räumlichkeiten sprach mit ihm nd-Redakteur Christian Baron.
CDU-Vorstandsmitglied Julia Klöckner warf Schulz umgehend vor, sein Verweis auf soziale Ungerechtigkeit sei populistisch und stärke die AfD.
Das ist eine List, die den moderierenden Stil von Angela Merkel als politischen Inhalt verkauft, um die durch Schulz ausgesprochene Wahrheit dahinter verschwinden zu lassen. Dass Merkel eine knallharte neoliberale Wirtschaftspolitik betreibt, die überhaupt erst den Aufstieg der AfD ermöglicht hat, lässt sich so kaschieren und jede Kritik daran mit dem Stempel des »Populismus« abtun.
Dieser Begriff geistert prominent durch die Debatte und ist dabei fast immer negativ konnotiert. Was verstehen Sie unter Populismus?
Es gibt den alten, herkömmlichen Populismus mit den klassischen Parametern: Eine Aussage ist populistisch, wenn sie für sich eine Wahrheit beansprucht, die weder demokratisch noch wissenschaftlich begründet ist. Sie leitet sich aus einem behaupteten Volkswillen ab, der nicht überprüft werden kann. Dazu gehört eine Unterscheidung zwischen »Wir« und »Sie«, eine Zuspitzung von Konflikten und das Verschieben der Schuld auf konkrete Sündenböcke.
Dafür stehen Rechtspopulisten wie Petry, Wilders oder Trump. Warum werden auch linke Politikinhalte als populistisch bezeichnet?
Neben dem herkömmlichen gibt es mittlerweile auch einen neuen, liberalen Populismus, der sich mit diesem methodischen Begriffsverständnis erklären lässt. Schaut man zum Beispiel auf die Eurorettungspolitik der Bundesregierung seit 2009, dann ist sie eindeutig populistisch. Angela Merkel hat ihre Austeritätspolitik als alternativlos bezeichnet. Und begründet hat sie das mit einer höheren Vernunft als der von demokratischen Gepflogenheiten. Die höhere Vernunft heißt hier nicht Volkswille, sondern Marktlogik und die ist genauso unerbittlich in ihren Ansprüchen und ebenso launisch in ihren Forderungen.
Aber Merkel und Trump unterscheiden sich doch nicht nur im Politikstil, sondern auch in den Inhalten teilweise erheblich.
Das stimmt, aber die Grundkonstruktion ihrer politischen Strategie bleibt dennoch gleich. Der liberale Populismus hat im Vergleich zum Rechtspopulismus sogar einen entscheidenden Vorteil: Während Trump zwischen Volk und Elite unterscheidet und materiell greifbare Grenzen zieht, vernebelt Merkel die Grenzen, die sie setzt. Nur wer einen Wert für den Arbeitsmarkt hat, kann die Grenze zur Erwerbstätigkeit überschreiten. Nur, wer Geld hat, kann die Grenze des Konsums überschreiten. Diese Grenze ist als solche nicht angreifbar, weil jeder sie selbst hervorbringt. Merkel hat es damit geschafft, sich gegen jede Kritik zu immunisieren und sie als latent faschistisch zu brandmarken. Als es im vergangenen Herbst ein Gewerkschafter wagte, die drohende Altersarmut anzusprechen, wurde er von der Kanzlerin ermahnt, damit aufzuhören, weil er Ängste schüren würde, die nur der AfD nutzen.
Tummeln sich in der Politik also nur noch Populisten?
Nein, denn im notwendigen Kampf gegen die rechten und die liberalen Populisten fehlt bisher die Kraft des Linkspopulismus. Es rächt sich gerade, dass der Liberalismus den Linken diese Waffe aus der Hand geschlagen hat, indem er unaufhörlich sein Mantra wiederholt hat, nach dem es falsch sei, individuelle Not als Klassengegensätze zu formulieren. Die Linken sind die einzige politische Kraft in Deutschland, die über keine populistische Anrufung verfügt. Stattdessen werden sie immer mehr zum nörgelnden Anhängsel einer bürgerlichen Hegemonie, die nur noch moralisch argumentiert.
Warum ist es denn ein Problem, moralisch zu argumentieren?
Immer, wenn das Gefühl der Betroffenheit zur Legitimation einer gesellschaftlichen Ächtung taugte, wurde es bisher zum Freibrief für Willkür: Ich fühle mich verletzt, darum muss dieser moralisch böse Mensch bestraft werden. Da hat der liberale Populismus mit seiner Behauptung, wir würden nicht mehr in einer Klassengesellschaft leben, die linke Identitätspolitik verunstaltet. Deren Problem ist ja nicht, wie die Rechten meinen, dass zu viel symbolische Macht in den Händen von Randgruppen liegt. Das wäre aus linker Sicht sogar begrüßenswert. Der blinde Fleck der Identitätspolitik ist ihr fehlendes Klassenbewusstsein. In der Ökonomie geht es nie um Moral, immer um Interessen. Wer aber keine Klassen kennt, muss auf moralische Kategorien zurückgreifen.
Klingt sehr abstrakt. Können Sie das konkreter erklären?
Als Trump ankündigte, die Arbeitsvisa für die USA restriktiver zu bewilligen, ging ein Aufschrei von den Internetkonzernen in Kalifornien aus. Die Wahrheit ist doch, dass die Arbeitsvisa vor allem dazu gebraucht werden, um hochqualifizierte, aber billige Programmierer ins Land zu holen, die die US-Amerikaner arbeitslos machen und deren Dumpinglöhne die Gewinne der Aktionäre steigen lassen. Hinter der moralischen Panik vor Rassismus verstecken sich also die Interessen des Kapitals, das einen Lohnkampf führt, indem es den Arbeitsmarkt globalisiert. Linke machen sich dabei selbst zu Kollaborateuren. Durch die einseitige Fokussierung auf die Fragen von Race und Gender ist der Diskurs erblindet für die Ausgrenzungen, die aus den Eigentumsverhältnissen resultieren.
Die Linkspartei thematisiert schon seit Jahren den Verteilungskonflikt. Die Frage ist doch: Warum profitieren ausgerechnet Parteien wie die AfD davon, dass der Neoliberalismus wankt?
Das trieb schon Walter Benjamin um, als er 1935 schrieb, der Faschismus habe den Massen einen Ausdruck verschafft, aber nicht ihr Recht. Der Rechtspopulismus verbindet seine Zuhörer zu einer Gefühlsgemeinschaft, schürt diffuse Ängste und instrumentalisiert sie für die eigenen politischen Ziele. Der liberale Populismus verdeckt wiederum seine eigenen Paradoxien. Beide Populismen leugnen die Ursachen der Angst, die aus sozialer Ausgrenzung folgt.
Sie meinen die Angst vor der politisch erzeugten Flüchtlingsaufnahmekrise. Mit diesem Thema treiben die Rechten derzeit alle anderen vor sich her. Wie sollten Linke sich dazu verhalten?
Sie müssen die Debatte durch andere Themen bereichern und konkrete Gegenvorschläge machen. Zum Beispiel zur Erbschaftssteuer. Das Bundesverfassungsgericht hatte festgestellt, dass sie unsozial ist, weil sie die Erben mittelständischer Unternehmen bevorzugt. Der Mittelstand warnte dagegen, dass eine striktere Erbschaftssteuer die Substanz der Betriebe bedrohe. Warum schlägt die Linke nicht vor: Die Betriebe werden befreit von der Erbschaftssteuer. Doch das, was sie eigentlich als Erbschaftssteuer hätten zahlen müssen, wird jetzt den Arbeitnehmern gegeben. So könnte man 25 Prozent des Betriebes zum Eigentum der Arbeitnehmer machen, die dann ein Mitspracherecht in der Organisation des Betriebes hätten.
Da würde der Mittelstand sofort rufen: »Das ist Enteignung!«
Man würde aber den liberalen Populismus entlarven. Denn das wäre ja wieder eine moralische Argumentation, der sich eine Gegenfrage anschließen könnte: Woher kommt eigentlich das Kapital, das dem Betrieb gehört? Hat er das gedruckt oder ist es nicht vielmehr das Produkt einer Enteignung der Arbeitnehmer, die um den Mehrwert betrogen wurden?
Was Sahra Wagenknecht wirtschaftspolitisch fordert, geht in diese Richtung. Trotzdem wird sie immer auf ihre Ansichten zur Flüchtlingspolitik reduziert. Der andere Flügel der Linkspartei wiederum würde wohl niemals so kapitalismuskritisch agieren, weil er mit der SPD regieren will. Vielleicht lässt sich Ihre Forderung einfach nicht umsetzen?
In der Debatte um die Flüchtlingspolitik gibt es Tabus, die eine differenzierte Betrachtung unmöglich machen. Die Ängste vor den Fremden sind weniger ein Ausdruck von Rassismus als die Folge einer jahrelangen Entsolidarisierung der Gesellschaft. Darum muss man auch diese Frage mit der Ökonomie verbinden. Die meisten Geflüchteten sind auf dem Arbeitsmarkt erst einmal schwer zu vermitteln. Die Rechnung fiel für die liberale Mittelschicht deshalb sehr günstig aus: Derzeit muss nur das untere Drittel der Gesellschaft einen Beitrag zur Willkommenskultur leisten. Indem diese Leute in einer Übersprunghandlung mit den Flüchtlingen die Falschen als Schuldige betrachten, kann das Bürgertum im Vollbesitz seiner Moral bleiben und sich über den »Mob« erheben.
Ihre Analyse leuchtet ein. Sie ändert aber nichts daran, dass jeder Politiker als Rassist beschimpft wird, der diese Zusammenhänge herstellt. Wie lässt sich dem begegnen?
Diese Politiker sollten den Spieß umdrehen und verlangen, die Kosten der Willkommenskultur auf die Schultern derjenigen zu laden, die den größten moralischen Nutzen davon haben. Warum müssen die Flüchtlingsunterkünfte immer in sozialen Brennpunkten gebaut werden und nicht - sagen wir - in Hamburg-Blankenese? Die Antwort kennen wir: Da wohnen die Reichen, die sich teure Anwälte leisten können und die dann klagen, weil angeblich die Rohrdommel gestört wird, wenn Flüchtlinge vorbeikommen. Plötzlich würde der Klassencharakter des Rassismus offenbar: Wer Geld für Anwälte hat, muss keine Brandsätze in Unterkünfte werfen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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