Nichteheliche Kinder werden diskriminiert

Erbrecht in Deutschland

  • Lesedauer: 4 Min.

In Artikel 6 Absatz 5 des Grundgesetzes heißt es: »Unehelichen Kindern sind (...) die gleichen Bedingungen für (...) ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.« Das steht dort seit 1949. Selbst in der Weimarer Verfassung von 1919 gab es schon einen entsprechenden Satz.

Die Realität aber sieht auch 2017 noch anders aus. Selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EuGH) rügte Deutschland erneut wegen einer der letzten Ungleichbehandlungen von nichtehelichen Kindern.

Wo behandelt das Gesetz nichteheliche Kinder anders als eheliche?

Im Erbrecht. Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren wurden und deren Vater vor dem 29. Mai 2009 gestorben ist, haben keine Rechte am Erbe ihres Vaters. Alle anderen nichtehelichen Kinder haben die gleichen Erbrechte wie eheliche.

War das immer schon so?

Bis 1970 galten ein nichteheliches Kind und sein Vater als nicht verwandt. Auch nach einer Gesetzesänderung blieb es für Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren wurden, bei einer Benachteiligung im Erbrecht. Nach einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hob Deutschland diese Stichtagsregelung teilweise auf - für Fälle, in denen der Vater nach dem 29. Mai 2009 gestorben war. Aus Sicht des Anwalts Felix Steinhoff, der das aktuelle Straßburger Urteil erstritt, wird die Entscheidung des Gerichtshofs damit nicht vollständig umgesetzt.

Warum diese komplizierte Stichtagsregelung?

Aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit. Der Gesetzgeber wollte die erbrechtlichen Verhältnisse zwischen Hinterbliebenen nicht über die Gebühr rückwirkend durcheinander bringen. 2013 bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Regelung. Kurz zuvor hatte der Menschenrechtsgerichtshof eine ähnliche Stichtagsregelung in Frankreich jedoch als diskriminierend bewertet.

Was hat der EuGH in Straßburg nun entschieden?

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Deutschland erneut wegen einer Diskriminierung von nichtehelichen Kindern im Erbrecht verurteilt. Die Straßburger Richter rügten die Stichtagsregelung als diskriminierend. Für eine solche Ungleichbehandlung brauche es sehr gewichtige Gründe, heißt es in dem Urteil des EuGH vom 9. Februar 2017 (Beschwerde-Nr. 29762/10).

Für eine solche Ungleichbehandlung brauche es sehr gewichtige Gründe, heißt es in dem Urteil. Die europäische Rechtsprechung und nationale Reformen tendierten nämlich klar dazu, alle erbrechtlichen Diskriminierungen von nichtehelichen Kindern abzuschaffen. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz könnten die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen.

Entscheidend war für die Richter im konkreten Fall auch, dass die nichtehelich geborene Klägerin von ihrem Vater anerkannt worden war und beide in Kontakt standen. Die Witwe des Mannes wusste daher um die Existenz einer nichtehelichen Tochter

Welche Folgen hat das Urteil?

Noch ist die Entscheidung nicht rechtskräftig. Die Bundesregierung könnte eine Verweisung an die nächste Instanz beantragen. Tut sie dies nicht, ist Deutschland an das Urteil gebunden. Deutschland wurde 2009 bereits einmal vom EuGH wegen einer Diskriminierung von nichtehelichen Kindern im Erbrecht verurteilt. Auf diese erste Verurteilung von 2009 reagierte der deutsche Gesetzgeber mit einer Reform des Erbrechts. Bis 2011 galt ein Gesetz, das einer noch größeren Gruppe von Menschen Rechte am Erbe des Vaters versagte.

Konkrete Vorgaben, wie das aktuelle EuGH-Urteil, dessen Durchsetzung der Europarat überwacht, umzusetzen ist, gibt es allerdings nicht. Die Klägerin kann außerdem auf eine Entschädigung hoffen, über die der Gerichtshof noch nicht entschieden hat. In Straßburg sind zudem zwei weitere Fälle anhängig. Die Kläger können mit einem Urteil in ihrem Sinne rechnen.

Wie viele Menschen sind von der Stichtagsregelung betroffen?

Die Bundesregierung hat dazu keine Zahlen. Rechtsanwalt Felix Steinhoff, der wieder einen der zwei weiteren Kläger vertritt, schätzt, dass zwischen 20 000 und 50 000 Leute betroffen sind. »Das sind Kinder, die während des Kriegs geboren wurden«, sagt er. Da seien die familiären Verhältnisse ziemlich chaotisch gewesen. Der Anwalt will, dass der Gesetzgeber die Stichtagsregelung vollständig aufhebt. »Als mein Mandant 1943 geboren wurde, da fühlte er sich im Grunde als Kind zweiter Klasse. Das ist jetzt die letzte Mauer, die noch fallen muss.« dpa/nd

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.