Die Schichten unter’m Grün
Bestickte Tücher gegen das Kriegsvergessen
Die Dramaturgie der aktuellen Ausstellung »1000 Tücher gegen das Vergessen«, die die große Schau »daHeim« im Museum Europäischer Kulturen ergänzt, ist klug gewählt. Im ersten Raum defiliert man an großformatigen Fotos kroatischer Landschaften auf textilem Grund vorbei. Malerische Küstenstreifen, waldumsäumte Weiden mit grasenden Schafen, die hügelan sich windende Autobahn, der nebelumwallte See. Frieden überall in sprießendem Grün, das ganze Land ein Idyll.
Wären da nicht die Bildunterschriften, die den Traum zerstören: Von den heute touristischen Bergen aus beschossen Serben im Kroatienkrieg die Stadt Dubrovnik; der Weidewald, im Zweiten Weltkrieg ein Versteck von Partisanen, war im Bosnienkrieg umkämpft; durch den Nebelsee verlief die Frontlinie - erst verdrängten bosnisch-kroatische Einheiten die serbischen Invasoren, danach rangen Bosnier und Kroaten um die Vorherrschaft. In Višegrad lebten bis in die neunziger Jahre mehr als 16 000 Bosniaken; nach Massenvergewaltigung, Vertreibung, Hinrichtung durch bosnische Serben sind nur noch wenige geblieben.
Gras ist, im doppelten Sinn, über die Landschaften gewachsen. Lieblich bieten sie sich dem Betrachter dar, auch im Vergessen dessen, war dort geschehen ist. Doch die Schichten unter dem Grün haben die Geschichte gespeichert. Und auch die Menschen, denen die Flucht aus den Kriegsgebieten gelang. Einige, meist Frauen, fanden in Berlin eine neue Bleibe, inneren Frieden aber fanden sie nicht. Der Verein »Südost Europa Kultur« hilft ihnen, ihre Traumata zu bewältigen.
So brachte 2002 die Schweizer Künstlerin Anna S. Brägger die Idee ein, für jeden Ermordeten ein Taschentuch zu besticken und die Tücher zu einer »Gedenkrolle für die Getöteten der Kriege in Südosteuropa seit 1991« zu fügen. In vielen Sprachen liest man diese Widmung auf dunkel eingefärbtem Stoff. Dann erstrecken sich, symbolisch wie ein Leichenzug, auf u-förmigen 47 Metern aus fünf vernähten Segmenten die rautenförmig dicht gefügten kleinen Tücher in den weiten Raum hinein. Leid, so weit das Auge blickt.
Name und Lebensdaten des Toten sind da eingestickt und Blüten, die er geliebt hätte. Für Husein, erst 20 und wie die meisten beim Massenmord in Srebrenica liquidiert, erblüht eine Blume; die für Muhidin weint; für Ibrahim reift eine Weintraube; für Faik und Farhid fliegt je eine Friedenstaube, und Zumra mochte offenbar Palmen. Viele Ermordete konnten bisher nicht gefunden werden. So sind die Taschentücher, von den Frauen tapfer unter Schmerz und Tränen ausgeschmückt, bewegbare und tief bewegende Epitaphien. Hörstationen bieten zudem Einsichten in Schicksal und Befinden der Stickerinnen. Dass ihre Arbeit beim Überleben half, bestätigen viele. Nun wünschen sie sich, dass ihr Denkmal wider das Vergessen auch andernorts gezeigt wird, um weiteren Betroffenen Mut zu machen. Ein sechstes Segment aus Tüchern ist schon im Entstehen.
»1000 Tücher gegen das Vergessen«, bis zum 25. Juni im Museum Europäischer Kulturen, Arnimallee 25, Dahlem
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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