Something like communism

Erik O. Wright denkt über reale Utopien nach - denn das Noch-Nicht heißt nicht Niemals

  • Hermann Klenner
  • Lesedauer: 5 Min.

Wer unter Utopie »Nirgendwo und Niemals!« versteht, der braucht Erik O. Wrights Essayband gar nicht erst anzufassen; es sei denn, er/sie/es liebt es, über Traumschiffe zu fantasieren, ohne sie jemals buchen zu können. Ebenfalls ungelesen lege das hier vorzustellende Werk beiseite, wer dem überlieferten Dogma huldigt, dass es für wissenschaftliche Sozialisten unmöglich oder unwürdig sei, über Idealgesellschaften nachzudenken. Wen allerdings Erfahrung und Verstand gelehrt haben, dass im Wirklichen das Mögliche liegt wie im Gegenwärtigen das Zukünftige, den wird dieses Zukünftige nicht weniger interessieren als die Wege dahin.

Erik Olin Wright: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus. A. d. Amerik. v. Max Henninger. Mit einem Nachwort von Michael Brie.
Suhrkamp. 530 S., br., 24 €.

Für manche überraschend: In den USA gibt es nicht nur als Politikpraktiker auf-trump-fende Milliardäre, sondern auch mit einem Reichtum entgegengesetzter Art ausgestattete Politiktheoretiker. Zu ihnen gehört der in Madison an der im Norden der Vereinigten Staaten gelegenen Universität von Wisconsin lehrende Professor Erik Olin Wright, Jahrgang 1947, mit soziologischer Sach- und einschlägiger Literaturkenntnis versehen, auch mit einem ausgeprägten Problembewusstsein. Seit mehr als 30 Jahren denkt er über Wege zu einem postkapitalistischen Ziel, zu »something like socialism« und »something like communism«, nach und publiziert eifrig, neuestens über die »American Society. How it Really Works«. Er ist buchstäblich in der ganzen Welt herumgereist, um über seine Ideen zu diskutieren, auch in Berlin war er zu diesem Zweck vor einigen Jahren.

Wright ist Herausgeber und Mitautor eines bereits 1991 begonnenen Vorhabens: »The Real Utopias Project«, das - nach vorn wie in der Breite offen - radikal-egalitäre Alternativen zur gegenwärtigen Gesellschaftswirklichkeit mit ihren Macht-, Privilegien- und Ungleichheitsstrukturen erörtert. Das Utopie-Projekt fußte zunächst auf dem robustesten Bestandteil der marxistischen Tradition, der Klassenanalyse der Gesellschaft. Die ersten sechs Bände haben insbesondere Demokratismus, Marktsozialismus, Egalitarismus und Geschlechtergerechtigkeit problematisiert.

Der jetzt - übrigens hervorragend - ins Deutsche übersetzte siebte Band »Envisioning Real Utopias« bietet Anregungen und Einsichten demjenigen zuhauf, der die gewiss nicht leichte Lektüre auf sich nimmt. Unter Rückgriff auf revolutionäre, aber auch reformistische sowie anarchistische Traditionen wird die Idee, den Kapitalismus durch Reformen »von oben« zähmen zu wollen, als Illusion verworfen. Doch wird auch die entgegengesetzte einseitige Orientierung auf einen sofortig-revolutionären Bruch mit den bestehenden Machtverhältnissen zurückgewiesen, da sie von der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht gedeckt sei. Um den Entwicklungsverlauf des real existierenden Kapitalismus endgültig zu untergraben, sollen hingegen in seinen Räumen und Rissen zunächst emanzipatorische Alternativen aufgebaut, institutionalisiert, verteidigt und erweitert werden. So solle beispielsweise um ein bedingungsloses Grundeinkommen für einen jeden (bei Wegfall von Sozialleistungen, Kindergeld und steuerfinanzierten Renten) gekämpft werden, selbst wenn dabei zunächst die dem Kapitalismus ureigenen Probleme zu lösen erleichtert werden und er sogar gestärkt aus dem Dilemma hervorgehe. Zumindest werde dabei eine Dynamik in Gang gesetzt, die das Potenzial habe, die Vorherrschaft der Kapitalisten zu erodieren.

Wrights Kritik als die eines Sozialisten an der kapitalistischen Gesellschaft mit den ihr eigenen Klassenverhältnissen ist vielgestaltig. Er offeriert nicht weniger als elf verschiedene Kritiken, »von denen hypothetisch angenommen wird, dass sie von der Grundstruktur des Kapitalismus erzeugt werden«: Der Kapitalismus verstetige sowohl eliminierbare Formen des menschlichen Leids wie auch eliminierbare Defizite an individueller Freiheit und Autonomie; er blockiere Bedingungen multidimensionaler menschlicher Entfaltung; er verstoße gegen liberale, radikaldemokratisch-egalitäre Prinzipien sozialer Gerechtigkeit; er sei in gewissen Hinsichten ineffizient; er weise eine systematische Schlagseite zugunsten des Konsumismus auf; er verwandle geistige Werte in Waren; er zerstöre die Umwelt; er befeuere in einer Welt der Nationalstaaten Militarismus und Imperialismus; er zersetze die Gemeinschaft und begrenze die Demokratie.

Der Versuchung, Rassismus, Sexismus, Krieg, Homophobie und religiösen Fundamentalismus als Folgen von Kapitalismus anzusehen, solle man jedoch widerstehen. Er sei nicht die Wurzel allen Übels, erschwere aber deren Überwindung. Was die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Kapitalistenklasse anlangt, so zieht Wright Marxens »Kapital« nicht heran. Er begnügt sich stattdessen damit, die wirtschaftliche Macht der Kapitaleigentümer zu charakterisieren, deren Interesse an Profitmaximierung sie veranlasse, große Teile der Bevölkerung in einer wirtschaftlich abhängigen Lage zu halten.

Für den ehrgeizigsten Versuch, eine wissenschaftliche Theorie der Alternativen zum Kapitalismus zu entwickeln, hält Wright die marxistische Tradition. Danach untergrabe der Kapitalismus im Verlaufe seiner Entwicklung die Bedingungen seiner eigenen Reproduzierbarkeit. Und er werde, auch infolge eines antikapitalistischen Klassenkampfes, letztlich so schwach, dass es ihm nicht mehr gelinge, seine revolutionäre Transformation in eine nichtkapitalistische, nämlich sozialistische und schließlich kommunistische Gesellschaft zu verhindern. Auch wenn er defizitär und gegenwärtig in Ungnade gefallen sei, stelle dieser intellektuell brillante Marxismus ein beeindruckendes Argument für die Gangbarkeit einer radikal egalitären, demokratischen Alternative zum Kapitalismus dar.

Die auch infolge der weltgeschichtlichen Niederlage der europäischen Sozialismen an einer Weiterentwicklung des Marxismus Interessierten wären gut beraten, nähmen sie die von Wright vorgebrachten Detailargumente gegen die Selbstzerstörungsthese des Kapitalismus (im Original: »the self-destructive trajectory of capitalism«) oder die zunehmende Proletarisierung nebst einer wachsenden Schlagkraft der Arbeiterklasse oder das antikapitalistische Potenzial der Informationstechnologien ernst.

Nicht »aus den Ruinen der alten Welt«, sondern vor allem in deren Freiräumen, deren Lücken und Widersprüchen sei die kommende Welt aufzubauen, so die Kernaussage Wrights zu der überfälligen Transformation des Kapitalismus. Von einem Mittanzen oder Mitregieren im Kapitalismus ist allerdings die Rede nicht. Sondern von einer Kombination unterschiedlicher Strategien. Es gebe gute Gründe, auch das Stürzen des Staates durch eine Revolution in den entwickelten kapitalistischen Ländern für eine (mögliche!) Strategie emanzipatorischer gesellschaftlicher Transformation zu halten.

Um den Anfangssatz dieser Rezension aufzunehmen: Wrights Utopiebegriff bedeutet nicht »Nirgendwo und Niemals!«, wohl aber - Prinzip Hoffnung! - kann er in seiner bestmöglichen Interpretation als »Noch nicht« einer Überwindung des Kapitalismus verstanden werden. Auch wenn dieser Kapitalismus auf absehbare Zeit noch existiert und der Sozialismus keine Verwirklichung von Idealen garantiert, so werde jedenfalls, so der letzte Satz des Buches, der Entwurf realer Utopien dazu beitragen, die Utopien real werden zu lassen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -