Ein Stück Familie
Unbegleitete minderjährige Geflüchtete brauchen einen Vormund, der sie gegenüber Ämtern vertritt
»Wie gets dir?« schreibt Ahmad in ein Schulheft. Richtig flüssig von der Hand gehen dem 17-Jährigen, der eigentlich anders heißt, die Schriftzeichen noch nicht. Auch die Rechtschreibung fällt ihm weiterhin schwer. Seit sechs Monaten geht er in eine Willkommensklasse in Berlin. Erst dort hat er angefangen, Deutsch zu lernen. Dabei war er zu dem Zeitpunkt bereits seit neun Monaten in Deutschland. Weder bekam er einen Platz in einem Integrationskurs noch in einer Schule. Er habe viel in seinem Zimmer gesessen, erzählt er, keinen Anschluss gefunden. »Ich konnte fast nichts verstehen, als ich noch nicht in der Schule war.« Ein viel größeres Problem war jedoch, dass Ahmad keinen Vormund hatte. Ohne einen solchen gesetzlichen Vertreter konnte er keinen Asylantrag stellen.
Ahmad kommt aus Afghanistan. Sein Vater und Bruder starben im September 2015, als sie zwischen die Fronten der Taliban und der Armee gerieten. Aus Angst, ihm könne das gleiche passieren, floh er nach Deutschland.
Im November 2015 in Berlin angekommen, hätte er als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling in eine betreute Jugendwohngemeinschaft verwiesen werden und einen Vormund bekommen sollen. Stattdessen wohnt Ahmad erst in einem Flüchtlingsheim in Wedding, dann zieht er in ein zu einer Unterkunft für junge Geflüchtete umfunktioniertes Hostel am Alexanderplatz um. Ein Jahr lebt er ohne einen Vormund, der sich um ihn kümmert, in Berlin. Erst im September 2016 vermittelt ihn die Caritas an einen Ehrenamtlichen. Mit Mathias Daus trifft er sich von nun an einmal pro Woche. Im Oktober beantragt Daus die Vormundschaft. Bis er aber seine Urkunde - einen grünen Zettel - in den Händen hält und das Amt offiziell antritt, dauert es noch einmal drei Monate.
Rund 2100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben nach Angaben der Jugendsenatsverwaltung derzeit in Berlin. Etwa 280 Jugendliche sind wie Ahmad noch in neun temporären Unterkünften untergebracht. Weitere 210 leben in sogenannten Clearingstellen, in denen der Fluchthintergrund geprüft wird und ob die jungen Menschen Verwandte in Deutschland haben, bei denen sie unterkommen könnten. Auch in diesen Einrichtungen verbleiben sie nur temporär. Alle anderen sind in betreuten Wohngemeinschaften untergebracht.
Persönlichen Bezug herstellen
Mathias Daus las in der Zeitung, dass in Berlin viele jugendliche Geflüchtete ohne Begleitung leben. Die Fluchtproblematik und das Verwaltungschaos von 2015 und 2016 kannte der technische Leiter eines IT-Unternehmens nur aus den Medien. »Die Vormundschaft hörte sich nach einer interessanten Art an, sich mit dem Flüchtlingsthema auseinanderzusetzen und einen persönlichen Bezug herzustellen.« Nach einem Gespräch bei der Caritas, die ehrenamtliche Vormünder betreut, erhielt er Kontakt zu Ahmad.
Vormund sein ist ein Ehrenamt. Wer sich dazu entschließt, erhält keine Aufwandsentschädigung. Die Caritas hat im Jahr 2016 rund 130 ehrenamtliche gesetzliche Vertreter vermittelt - bei weitem nicht genügend, um alle Minderjährigen zu versorgen. Daus ist dabei ein eher ungewöhnlicher Fall. »Die meisten bringen ihr Mündel bereits mit«, sagt Mitarbeiterin Vera Lanvers. Für alle anderen Jugendlichen sei es schwierig, einen ehrenamtlichen Vormund zu finden. Schließlich übernähmen sie die »elterliche Sorge« und gingen so eine große Verpflichtung ein. Beispielsweise müssten sie auch ihr Einverständnis geben, wenn bei ihrem Mündel eine Operation anstünde. In der Regel sind es aber Dinge wie die Schulwahl, für die die Vormünder ihre Unterschrift abgeben. Sie gehen zu Elternabenden, sprechen mit den Betreuern in den Unterkünften und begleiten den Asylprozess.
Wie jede Woche treffen sich Ahmad und Daus an diesem Dienstag in einem Büroraum in Wedding. Hier üben sie zusammen Deutsch und sprechen über Ahmads Pläne. Heute liegt ein Brief vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vor den beiden. Es ist die Einladung für Ahmads Asylanhörung. Der Termin ist in zwei Wochen, doch es gibt ein Problem. »Sie haben den falschen Übersetzer vorgesehen«, sagt Daus. Ahmad spricht Paschtu, neben Dari die zweite Amtssprache Afghanistans. Den Dari sprechenden Übersetzer könnte er zwar einigermaßen verstehen, aber für die Anhörung reicht das nicht. Sie entscheidet darüber, ob er als Flüchtling anerkannt wird und in Deutschland bleiben kann. »Das ist seine einzige Chance«, sagt Daus. Einen zweiten Termin gibt es nicht. »Alles, was man vergisst zu erzählen, wird nicht berücksichtigt.« Auch nachgereichte Dokumente werden nicht akzeptiert. Deshalb hat Daus beim BAMF angerufen und um Korrektur gebeten. Nun warten sie auf Antwort.
Als Vormund sieht sich Daus in der »Pflicht, allgemein zu gucken, dass es Ahmad gut geht« - und Bürokratisches zu erledigen, das der Jugendliche ohne ihn nicht erledigen darf. Schwieriger findet er es, den richtigen Sportverein oder andere Aktivitäten für ihn zu finden. »Dafür müssen wir uns noch besser kennenlernen.« Ahmad ist froh über den Vormund. »Er hilft mir. Beim Deutschlernen, bei der Suche nach einer anderen Wohnung.« Manchmal gehen sie auch zusammen ins Museum.
Die Vormünder, die die Caritas betreut, reichen von der 24-jährigen Studentin bis zum pensionierten Akademiker-Ehepaar, erzählt Vera Lanvers. Sie sind Schauspieler, Ärzte, Hausfrauen, Menschen mit und ohne eigene Migrationserfahrung. Viele haben nur ein Mündel, manche betreuen ein Geschwisterpaar oder Freunde. Lanvers selbst ist für über 50 Jugendliche zuständig: über eine sogenannte Vereinsvormundschaft. Neben der Caritas wurden zwei weitere Vereine damit beauftragt, weil die Berliner Ämter überfordert sind. Erst seit 2015 brauchen minderjährige Geflüchtete einen Vormund, um einen Asylantrag zu stellen. Dadurch ist die Anzahl der benötigten Vormünder in die Höhe geschnellt - und durch die hohe Zahl der 2015 und 2016 eingereisten Geflüchteten.
Durchschnittlich hat Lanvers etwa eine Stunde pro Woche Zeit für jeden Jugendlichen. In der Praxis brauchen manche mehr, manche weniger Hilfe. Auch sie begleitet die Kinder zu Beratungsstellen, zur Asylanhörung, spricht mit den Betreuern in den Heimen und mit den Lehrern. Für die einen sucht sie Willkommensklassen, für andere Ausbildungsplätze. Unter ihren ausschließlich afghanischen Mündeln sind viele Analphabeten. Aber nicht nur: »Ein Jugendlicher hat mich als Erstes gebeten, seinen Antrag für einen Bibliotheksausweis zu unterschreiben.« Das tat sie gern. Was fehlt: »Die emotionale Freizeitschiene kann ich nicht abdecken.« Ehrenamtliche würden in der Regel ein viel engeres Verhältnis zu ihren Mündeln aufbauen. Viele blieben auch nach der Volljährigkeit mit ihnen verbunden.
Besserer Schutz für Volljährige
Mit 18 Jahren nämlich endet die Vormundschaft automatisch. Ab da müssen die jungen Menschen ihre eigenen Entscheidungen treffen. Auf Antrag ihrer Vormünder können sie in der sogenannten erweiterten Jugendhilfe verbleiben. Derzeit fallen darunter etwa 500 junge Volljährige.
Nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im September 2016 hatten sich SPD, Linkspartei und Grüne bei den Koalitionsverhandlungen darauf geeinigt, jungen Volljährigen einen besseren Schutz zu bieten. Im Koalitionsvertrag heißt es: »Die besondere Situation unbegleiteter Minderjähriger, die volljährig werden, begründet nach Auffassung der Koalition einen Jugendhilfebedarf.«
Bis jetzt hat sich an der Situation junger Volljähriger noch nichts verbessert. Der Flüchtlingsrat kritisiert, dass junge Geflüchtete mit Beginn der Volljährigkeit oft alleine gelassen werden. Häufig würden sie aus den Jugendhilfeeinrichtungen entlassen und müssten in reguläre Flüchtlingsunterkünfte ziehen - »mit folgenreichen biografischen Brüchen, rechtlichen wie psychosozialen Konsequenzen«, heißt es in einem aktuellen Positionspapier. Oft müssten sie sich ganz neu im Ankunftszentrum in Tempelhof registrieren, obwohl sie längst erfasst seien. Dadurch könnten sie auch aus der Schule gerissen werden. Schlimmstenfalls drohe auch Obdachlosigkeit.
Fortbildungen sind verpflichtend
Eine, die ihre Mündel selbst mitgebracht hat, ist Rita Plaster. Über die Caritas hat sie bereits an mehreren Fortbildungen zu ihrer Rolle als gesetzliche Vertreterin teilgenommen sowie über Asylrecht. Die Fortbildungen sind verpflichtend und auch notwendig, da das Thema für viele ehrenamtliche Vormünder neu ist.
Plaster lernte Narvid und Arman im Theater kennen. Im ehemaligen Rathaus Friedenau sind die beiden jungen Afghanen bereits dreimal gemeinsam mit anderen geflüchteten und nicht geflüchteten Jugendlichen vor Publikum auf der Bühne des Theaters Morgenstern aufgetreten. Plasters Schwiegertochter hilft hier als Übersetzerin. Mittlerweile wird sie nicht mehr so häufig gebraucht, die meisten der Geflüchteten sind schon seit fast eineinhalb Jahren in Berlin und verstehen das meiste, was ihr Trainer Selim Çınar sagt. Wenn nicht, helfen sich die Jugendlichen gegenseitig. An diesem Montag sollen sich die sieben Jungen und sieben Mädchen so durch den Raum bewegen, als kämen sie in eine unbekannte Umgebung, die sie erstaunt um sich schauen lässt. »Erstaunt?«, ruft ein Mädchen den anderen zu. »Wisst ihr, was das heißt?«, fragt sie auf Farsi und erklärt die Bedeutung.
Arman und Narvid sind im Iran geboren. Auch sie heißen eigentlich anders. Ihre Eltern waren vor über 20 Jahren aus Afghanistan dorthin geflohen. Sie haben keine Pässe und müssen alle sechs Monte ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängern lassen. Die Jungen gingen nur kurz zur Schule. Narvid arbeitete schon mit neun, Arman mit elf Jahren als Näher in einer Fabrik ihrer Heimatstadt. Bis sie vor mehr als einem Jahr nach Deutschland flohen.
Hier lebten sie zunächst im Hostel am Alexanderplatz. Mittlerweile sind sie in zwei Wohngemeinschaften in Pankow umgezogen. »Wir sind Nachbarn«, sagt Narvid, der heute 15 Jahre alt ist. Im Gegensatz zu seinem 17-jährigen Bruder erhält er eine 24-Stunden-Betreuung. Beide gehen in Willkommensklassen. Zum Theater hatte sie eine Betreuerin mitgenommen - zunächst zu einer Aufführung, dann zu den Proben für das nächste Stück. Den Jungs macht es Spaß, sie üben Deutsch und freuen sich, die anderen Jugendlichen wiederzusehen, die mittlerweile über ganz Berlin verteilt leben. »Vielleicht ist es auch gut für die Zukunft«, sagt Narvid. Was er mal werden will, weiß der 15-Jährige allerdings noch nicht.
Sein älterer Bruder Arman hingegen sucht schon eine Ausbildungsstelle - zum Beispiel als Schneider. »Rita hat mir eine Nähmaschine geschenkt«, erzählt er. Ihm und seinem Bruder, korrigiert er sich dann. Die nutze er auch, nähe Hemden und Hosen. Arman wird Ende des Jahres 18. Deshalb will er jetzt mit Plaster seinen Asylantrag stellen, damit sein Aufenthalt auch über seine Volljährigkeit hinaus gesichert ist.
Plaster habe ihnen geholfen, eine Schule zu finden und einen Sportverein, erzählen die Jungs. »Sie ist wie eine Mutter«, sagt Arman. Auch Plaster sieht sich und ihre Kinder als »ein Stück Familie« für die beiden. Kürzlich seien sie auf der Hochzeit ihres Sohnes eingeladen gewesen, ein »rauschendes Fest«. »Da waren sie ganz stolz.«
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