»Weiß nicht«

Theater Pforzheim: »Die Bürgermeisterin von Lampedusa« von Dietrich Wagner

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Es geschieht nicht alle Tage, dass »neues deutschland« auf deutsche Bühnen gelangt. Beim »Vorspiel auf dem Theater«, 1968 in der legendären »Faust«-Inszenierung am Deutschen Theater, trug einer das »nd« in der Tasche seines Bademantels. Ein Absicherungs-Kalauer. Noch zu DDR-Zeiten ließ Frank Castorf in Karl-Marx-Stadt, als er Heiner Müllers »Bau« inszenierte, zum Ärger der Oberen die Bühne mit unserem Blatt auslegen: Was nicht zum Knüller taugt, reicht allemal zum Knüllpapier. Und Thomas Langhoff las bei einer Matinee in der Volksbühne einen »nd«-Protokollbericht »aus dem Parteileben« derart einfühlkräftig, dass der Saal tobte.

Zeit für Sinneswechsel und Sinnwandel. Der im schwarzwäldischen Neuenbürg lebende, aus der DDR stammende Psychologe und Schriftsteller Dietrich Wagner - er war der erste ostdeutsche Psychologiestudent in Heidelberg - las vor einigen Jahren im »nd« einen Text über Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin von Lampedusa - jener italienischen Insel mit dem bestürzenden Trauerflor: europäisches Festland, vor dessen Küste inzwischen tausende Afrikaner ertranken, sich gleichsam zu Tode flüchteten. Die Bestürzung des Autors wurde Drang zur Reflexion: »Die Bürgermeisterin von Lampedusa« heißt der poetische Monolog Wagners, ein Selbstgespräch dieser Frau, ein Aufschrei. Das Stadttheater Pforzheim nahm das Stück kurzfristig in sein Programm, weitere Vorstellungen sind geplant - vor allem aber will man mobil sein, wird mit der Aufführung über Land gehen, möchte zeigen und diskutieren.

Drei Paar Schuhe stehen auf dem Boden. Für zierliche Füße. Rund um einen Tisch drei Frauen, in schwarzen langen Kleidern - sie sind barfuß. Konstanze Fischer, Anne-Kathrin Lipps, Heidrun Schweda. Sie kochen Spaghetti, trinken Wein, reichen uns Oliven. Diese drei Frauen sind diese eine Frau: die Bürgermeisterin von Lampedusa. Regisseur Hannes Hametner inszenierte den Monolog Wagners als chorisches Poem. Eine Stimmenpartitur. Der Text als Collage, er tastet nach sich selbst. Wiederholungen, Verstärkungen. Weichheit und Wut, und immer wieder Hinkehr zur brennenden Wunde, die das überforderte Bewusstsein foltert, Lösungen sucht und keine findet. Hauptworte des Abends: »Weiß nicht« und »Ich habe Fragen.«

Hametners Regie gibt den Frauen antikische Anmut noch im Klagen und antikische Wucht noch in der grazilen Beschwörung lampedusischer Schönheit. Eine Insel, die Traum ist und just darin auch Lüge. »Wir sind nicht irgendwo im Nichts. Wir sind die Mitte!« Wo nicht nur weniger Sonne scheint, »hier ist es auch kälter.« Am Ende stehen die drei Frauen mit dampfenden Tellern vor uns. Unfähig zu essen. Stärker als der Kochduft: der bittere Gedanke ans imperiale europäische Gemüt. Es ist jenes Gemüt, das einst die Schotten dicht machte, um zu Eroberungen hinauszuziehen: Entgrenzung. Und es ist heute das Gemüt, das die Schotten dicht macht: Grenzziehung. Weil jene leicht dahingesagte Wahrheit, wir säßen doch alle in einem Boot, plötzlich als störender Anspruch an die goldenen Tore klopft. »Ich sehe den Fischer, der den Flüchtling grüßt; ich sehe den Fischer, der den Flüchtling anspuckt.«

Kein Stück. Kein Drama. Aber dramatisch. Klang. Trauerzeichen, Aufputschmelodie; dann wieder Momente der Besänftigung, ein fast arkadischer Anhauch. Diese Bürgermeisterin, die auf eine Änderung der unglücklichen Lage drängt, auf Kampf gegen das offizielle Europa - sie will »ungeschriebene Gesetze nicht befolgen, aber bestehende Gesetze nicht brechen«. Wagners Text ist kein Populist gegen Institutionen und auch keine biografische Spurensuche. Er zielt auf einen poetischen Ausdruck für jenes Bedrängende, das generell von Zerreißproben ausgeht. Was tun? Frag dich selbst!

Wer poetisch wird, rechnet mit Wirkungslosigkeit. Aber mir macht Eindruck, wenn ich merke, ein Schreibender hat sich wehren müssen, also schrieb er. Wenn er sich durch Schreiben gewehrt hat, sind seine Wörter mit Notwendigkeit entstanden. Und so meinen die Wörter hier nicht so sehr die Bürgermeisterin, sie meinen den Autor, und ein Autor hat immer die Hoffnung, er sei in seiner Not kein Einziger. Ein notwendiger Schreiber ist immer ein Verteidiger. Seiner Hilflosigkeit. Vielleicht auch seiner Sehnsucht - mitten im Elend. »Wie verwandelt sich Grauen in Hoffnung?« fragt die Frau, fragen die Frauen.

Hoffnung worauf? Auf einen politisch völlig neuen Einheitsprozess. Auf eine Vereinigung der Satten mit denen, die es satt haben. Wann endlich haben wir uns selber und unser »Teile und herrsche!« satt und hungern einer neuen Machtregel entgegen: Beherrsche dich und teile. Die Anständigen und die Zuständigen - einer werde beim anderen vorständig.

Auf Nicolinis Flammbrief von 2012 hat die europäische Politik übrigens nie geantwortet. Heiliger Fluch. »Ich gehe durchs Meer«, sagt die Bürgermeisterin, »und erreiche euch. Und komme als euer schlechtes Gewissen«. Die da um Hilfe ruft, ist auch Rachegöttin. Will in ihrer enthemmten Hilflosigkeit als Terror kommen, als Blindheit, als Drogen schon für die Kinder. »Ich werfe Wasserleichen auf eure Städte.« Jetzt noch einmal der gesamte Text. Gesprochen aber nur von einer der drei Frauen. Wie ein Prägedruck. Nachschärfung.

Den Abschluss dieses bemerkenswerten, einstündigen Abends bilden fünfzehn Minuten Dokumentarfilm. Auf der Videowand, in ruckendem Fortlauf, nur immer eine einzige Szene: Wir schauen unablässig auf ein winziges überfülltes Flüchtlingsschlauchboot auf geradezu lieblich blauem Wellengelände. Dazu Funkspruchfetzen der Seenotrettung Cartagena. Zwar nimmt dieser Film die soeben noch so unmittelbar wirkende, wehe literarische Kraft aus der Inszenierung, und den drei Spielerinnen wird so das Recht finaler Eindrücklichkeit verwehrt. Andererseits aber provoziert die zähe filmische Monotonie zu Selbst-Besinnung.

Du siehst dieses Mittelmeer. Irgendwo auf diesem Ozean kreuzen die Traumschiffe. Urlauber, mit allen Wassern eines günstigen Schicksals gewaschen, teilen sich die Horizonte mit Menschen, denen das Wasser bis zum Hals steht. Ja, Wasser hat keine Balken. Sie werden gebraucht. Aus ihnen errichten wir die Barrieren, daran Flüchtlinge abprallen, wenn sie Europas Küsten erreichen. Und erfahren müssen: Der mühevoll erreichte Strand hält, was der Begriff verspricht - es darf gestrandet werden. Die Flüchtlinge kennen das Meer nicht, hatte die Bürgermeisterin gesagt, und war sich ins Wort gefallen: »Aber die Schlepper kennen es, und vor allem kennen sie das alte Prinzip: mehr und noch mehr!« Und sie war sich nochmal ins Wort gefallen: »Es ist unser Prinzip.« Durchs Meeresblau der Videowand leuchtet das in jedem Theater obligatorische grüne Schildchen mit dem Piktogramm des Fluchtweges. Für uns ist gesorgt. Unerwartet, unfreiwillig wird das Schild zum Gleichnis: Es ist das Signal aus einer überforderten Gesellschaft, in der es offenbar nur noch die Notausgänge sind, die den Weg ins Freie weisen.

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