Endlich: ein Ruf nach Versöhnung
An der Dresdner Semperoper inszenierte Michiel Dijkema Mozarts »Entführung aus dem Serail«
Das ist ja, staunt das Auge, illusionistisches Theater. Ausstattung wie zu Max Reinhardts Zeiten. Märchenhafte Flur, Nebel steigen auf. Orientalische Kostümierungen (Claudia Damm, Jula Reindell). Es donnert und blitzt, wenn nötig. Abdrücke von Krokodilen kriechen am Boden, das Tor zum Reich, alt und schäbig, zieren Flügel mit Griffen aus Schwertern. Belmonte, seine Plünnen grün wie die Laubfrösche, er, der großmütige Sucher in der Oper, kämpft sich durch die dampfende Traumlandschaft aus Sümpfen und Gräsern, bizarren Bäumen und Gewässern hindurch. Ja, er verwächst bis zum Halse mit dieser, bis der Freund ihn am Kopf herauszieht. Irgendwann schiebt sich die gereihte Botanik, wie von des Zauberers Hand, ineinander. Anklänge an Janitscharenmusik und sonstige türkische Kolorierungen lässt schon die Ouvertüre hören. Ins Auge springt sodann die große Prozession mit Kamelen, schönen Frauen im Käfig, bärtigen, rot betuchten Soldaten und farbig Volk. Opulent die gesamte Bühne, ausgestaltet von Michiel Dijkema, der auch Regie führte.
Mozart komponierte mit der »Entführung aus dem Serail« eine Art Fahndungsgeschichte mit überraschend glücklichem Ausgang. Belmonte sucht die im Harem darbende Geliebte Konstanze, mit ihr deren englische Zofe Blonde und Freund Pedrillo, Geliebter derselben, um sie zu erlösen. Joel Prieto in der Rolle des Belmonte singt und spielt gleichsam den Entführer der Entführten. Die drei hatte es erwischt: Piraten kaperten ihr Schiff und verkauften sie an Bassa Selim, dieser in Diensten des Sultans. Belmonte hatte Glück, er konnte fliehen. Nun wälzt er sich durch die giftig-türkische Traumzauberbotanik, hoffend, die Seinen zu finden und zu befreien. Eine Odyssee, vollgepackt mit Hindernissen. Denn die kollektive Flucht misslingt, Osmin, der Wächter, setzt die Fliehenden fest und fährt die Folterinstrumente auf. Wie in Beethovens »Fidelio« spricht das schließlich befreiende Wort der aufgeklärte Geist.
Reinweg eine Türkengeschichte? Keineswegs. Bassa Selim, der Boss, ist durch eine böse Intrige angespülter Spanier, derselben Herkunft das hohe Paar Belmonte und Konstanze, das Zentrum des Singspiels. Blonde ist Britin. Waschecht türkisch sind allein Osmin mit Anhang, ferner die Haremsdamen und Leute aus dem Volk.
Ort der Handlung ist der türkische Herrschaftsbereich. Der, dieser Tage ins Netz geschaut, kollabiert gerade, und die Welt, zumal die amtliche westliche, obwohl nicht viel besser, empört sich sanft. Tangiert dergleichen die Neuproduktion? Hinreichend ernst war die türkische Lage schon vorher. Dass der Despot Erdoğan gegen große Volksgruppen Krieg führt und Leute massenhaft einsperrt, lässt die Oper - sie erzählt ja von eingesperrten Menschen unter türkischer Fuchtel - geradezu gegenwartsnah erscheinen. Da hätte die Regie voll draufgehen können. Die Semperoper-Inszenierung tut das nicht, jedenfalls nicht plump. Und das ist gut so. Die Paare trotzen in Dresden allen Avancen und Anfechtungen. Sie degradieren nicht zu Kretins, die Frondienste leisten oder im Hurenhaus enden und letztlich mit den Wölfen heulen, wie es gewisse moderne Lesarten suggerieren. Im Gegenteil: Ihre Freiheitssehnsucht bleibt ungebrochen. Am Ende siegt die Idee der Aufklärung. Langweilig, altbacken?
Dies Mozartsche Gerüst geht auch zu zerkloppen, was Calixto Bieito 2004 mit seiner Inszenierung an der Komischen Oper Berlin vorführte. Sie erregte seinerzeit Aufsehen. Es stimmt, Mozart interessierte sich für Musik, Sex, Billard, Tarock und Mathematik. Lust hatte er wahrscheinlich immer. Der Spanier Bieito, passionierter Verunstalter von Oper und Beseitiger von Aufklärung, hatte mit seiner »Entführung« eine Gegeninszenierung installiert. Im Harem des Bassa Selim ließ er Geschlechterkämpfe rigide sich austoben, Kämpfe, bei denen es nur einen Sieger gibt: die Anti-Aufklärung. An die Stelle der Liebe wider alle Gefährdungen, die Mozarts »Entführung« in jeder Note mitführt, rücken duettierende Pistolenhelden, Terroristenquartette, dreckiger Sex, Machtkämpfe, Finsternis.
Hell dagegen und mozartfreundlich die Aufführung in der Semperoper unter Michiel Dijkema. Verballhornung findet nicht statt. Keine Figur ist indifferent oder einseitig gezeichnet. Darin folgt Dijkema ganz dem Komponisten. Mozarts Arien, Duette, Ensembles treiben Widerspiel und Nuancierung so weit, wie kein Schauspieler, kein Bühnenarrangement es zuwege brächte. Darauf vertraut der niederländische Regisseur und fährt gut damit. Wo äußerlich finsteres Begehren bei den Herrschern ist, kann es in der Musik ehrliches Begehren sein. Selbst Osmin, scharf auf die fesche Blonde, ist nicht bloß zähnefletschender Hau-Drein-Typ, sondern Bassist Dimitri Iwaschenko ruft in seinen Partien gelegentlich auch feinere Gefühle bei ihm ab. Als Haremswächter steht Osmin freilich auf der Höhe seines Berufs. Was sexuelle Nötigung heißt, ist für ihn keine.
Bassa Selim, eine Sprechrolle, Erol Sander gibt sie, sucht in anderer Art, Konstanze für sich zu gewinnen. Kein Rabauke a priori, dem Raubtier verwandt, wohl aber biologisches Wesen mit Überbleibseln von Gefühl und Gewissen. Zärtlich mitfühlend die Art, wie Konstanze auf die Skala seiner Regungen reagiert und sich zugleich dem männlichen Begehren entzieht. Selim, zornig und nachsichtig gleichermaßen, hat es schwer mit ihr. Simona Saturová singt die Rolle der Konstanze. Ihre Arien treffen jene polaren Gefühlslagen genau.
Groß die Feier, finden sich die Paare wieder. Blonde, wunderbar besetzt mit der frech-fröhlichen Tuuli Takala, und Pedrillo, dem Witz und Können seiner Partnerin kaum nachstehend: Manuel Günther, wischen sich nach getaner Arbeit hinten im Felde den Schweiß von der Stirn. Vorn duettierend das hohe Paar. Der Jubelchor erschallt zu früh (Choreinstudierung Cornelius Volke). Pedrillo indes treibt unverdrossen weiter Schabernack. Selbst in der Eifersuchtsszene. Sie steht unter einem anderen Stern als jene vielen in »Cosi fan tutte«, wo die Männer, keine Übeltäter, ihre Frauen auf Treue testen, was zu ernstesten Konflikten führt. Die »Entführung« fragt hingegen: Wurden unsere Frauen schwach an der Brust der Peiniger? Die Antworten fallen eher heiter aus.
Der Plan zu entfliehen wird rasch gefasst. Im freien Feld steht Pedrillo mit der horizontalen Standuhr auf der Schulter - die Zeit läuft - und macht sodann Osmin (Allah verbietet das Trinken) auf urige Weise besoffen. Der seinerseits singt sich im Trunk ungeahnte Manneskräfte aus der Seele. Beide, die agile, koloraturfreudige freche Blonde und ihr Geliebter Pedrillo, sind die herzerfrischenden Komödianten der Aufführung. »Türken verstehen nicht den geringsten Spaß«, wirft er trocken hin, und die Zuschauer lachen. Bevor die vier gefasst werden, spannt der junge Spanier, als würde der Stier vor ihm stehen, den Regenschirm auf und verteidigt die Gruppe gegen das türkische Schwert. Seil und Leiter, Wagemut und Schirm nützen nichts. Der Zugriff ist fällig. In Fabrikgröße aufgemacht die Folterkammer über die ganze Breite der Bühne, darin Kessel und Pickelräder, Ketten und gezackte Stahlgurte, Pritschen, Seile, Fackeln und Rauch auf ihre Opfer warten.
Als Mozart die »Entführung« fertigstellte, vollendete er gerade sein 26. Lebensjahr. Die Oper, auch Singspiel genannt, uraufgeführt am 26. Juli 1782 im Wiener Hof- und Nationaltheater, hatte Riesenerfolg. Solchen wie kein anderes seiner Werke zu Lebzeiten. Ihr buffoneskes, kunstvoll genähtes musikalisches Kostüm, ihre so bitteren wie komödischen Rollenspiele, ihre unverstellte Volkstümlichkeit jenseits steifer barocker Konventionen zogen in den Bann. Nicht zuletzt die aus Mozarts Freimaurertum genährten Zeichen der Aufklärung, welche im Tutti-Finale zur Prachtentfaltung gelangen. Racheengel zu spielen, erlaubt die Oper nicht. Ihr Sexorgien aufzupfropfen, verbietet sich schon geschmacklich. Der Mensch, vorgeführt als Tier, sinnlos. Mozarts Musik ist hierfür ungeeignet. Milde, Versöhnung, ein Verzeihen, getreu dem Werk, stehen am Ende. Während die Folterinstrumente vor den Gefesselten zu drehen beginnen, kommt Bassa Selim, in Belmonte den Sohn seines einstigen Bedrängers erkennend, angelaufen und befiehlt überraschend die Befreiung der geschundenen Paare.
Derlei zu inszenieren, mag furchtbar konventionell erscheinen, in Dresden wirkte es höchst erfrischend. Der Ruf nach Milde und Ausgleich, nach Versöhnung - dies der Gegenwartsbezug - muss in Zeiten des Einsatzes der Superbombe und von potenziell Schlimmerem kraftvoll erschallen. Immer lächeln die Szenen in dieser »Entführung«, die Üppigkeit der Bühne bezaubert. Stets auf der Höhe Mozarts die Staatskapell-Musiker, alle Solisten, der Sächsische Staatsopernchor unter Christopher Moulds. Eine große »Entführung« ist jetzt in Dresden zu erleben.
Nächste Vorstellung am 24. April
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